Mein Vater liebte das Wandern. Fast jeden Sonntag standen wir früh auf und fuhren mit der Bahn – ein Auto besaß unsere Familie lange nicht – irgendwo hin, um zu wandern. In den Sommerferien wurde täglich gewandert. Mir schien dies sehr gefallen zu haben. Zumindest auf dem Foto aus dem Jahre 1970 bin ich jedenfalls äußerst stolz, den auf 2472 Meter ü. M. liegenden Gipfel des Pierre Avoi im Kanton Wallis als 7 1/2 jähriger erklommen zu haben.
Allerdings glaube ich doch mich auch daran zu erinnern, dass ich – wenn nicht gerade Ferien waren –, das frühe Aufstehen an Sonntagen nicht so besonders mochte. Dennoch war wandern – nicht nur für mich – eine in der Schweiz allseits beliebte Freizeitbeschäftigung. Es gab aber etwas, das mich von den anderen unterschied: Die Wurst am Berg.
Wenn Schweizer wandern, entzünden sie unterwegs ein Feuer und grillen eine Wurst, den Cervelat. Diese Schweizer Nationalwurst, die wirklich gar nichts mit einem deutschen Produkt desselben Namens zu tun hat, kann zwar auch kalt gegessen werden, aber richtige Schweizer "brötlen" sie über dem offenen Feuer.
Wir brötleten nie. Mein Vater konnte kein Feuer anzünden. Wie sollte er auch. In der Schweiz lernt man dies als Jugendlicher bei den Pfadfindern. Mein Vater lebt zwar seit seinem sechsten Lebensjahr in der Schweiz, aber als jüdischer Flüchtling vor den Nazis war nix mit Pfadfinder sein und brötlen. Meine Mutter konnte auch kein Feuer entfachen, da dies in der Schweiz in den 70er Jahren noch vornehmlich als Männersache galt, und ich konnte es auch nicht.
Ich war zwar schon ein Schweizer Bürger und auch Mitglied einer Jugendbewegung. Nur waren dies nicht die Pfadfinder, sondern der Bne’ Akiwa, ein religiös-zionistischer Jugendbund, der sich immer am Schabbat, also Samstags, traf, und am Samstag wurden da keine Feuer angezündet.
Auch wenn ich es nicht kannte, ich vermisste das Brötlen sehr und dachte, mir würde eine wichtige landesübliche Erfahrung fehlen. Zudem durfte ich auch nicht von anderen Wanderern ein Stückchen Cervelat abbeißen. Erstens galt dies als unschicklich und zweitens waren ihre Cervelats unkoscher, unsere hingegen nicht. Aber waren unsere Cervelats auch wirklich richtige Cervelats?
Ein Schweizer Cervelat ist rund 12 Zentimeter lang, rund vier Zentimeter dick und etwas gekrümmt, etwa so wie eine Banane. Allerdings ist er nicht gelb, sondern fleischfarben und gehört zur Gruppe der Brühwürste. Das Wichtigste an ihm ist seine Füllung. Sie besteht aus Rindfleisch, Schweinefleisch, Speck und Schwarten sowie einer geheimen Gewürzmischung. Koschere Cervelats dürfen bekanntlich keine Schweinereien beinhalten. Dies wusste ich und dachte, vielleicht gehören wir gar nicht richtig zu den Schweizern, zu denen, die brötlen.
Viele Jahre später, ich kam von einem längeren Aufenthalt in Jerusalem zurück – unter anderem war ich auch in einer Jeschiwa, einer Talmudhochschule –, begann ich damit, diese unkoscheren Würste selbst auch zu essen. Vor der ersten Wurst habe ich lange gezögert, ich dachte, wenn ich es täte, würde ich gleich vom Blitz erschlagen werden. Gott würde diesen Frevel nie tolerieren. Glücklicherweise – Gott ist eben doch großzügig – traf mich kein Blitzschlag, allerdings auch kein erhöhtes Heimatgefühl.
Um Schweizer zu sein, muss man wahrscheinlich mit dem Cervelat in der Hand geboren werden.
Daniel Wildmann, geboren 1962 in Luzern, Historiker. 1993-1997 Aufnahmeleiter, Regieassistent und Drehbuchmitarbeiter bei Schweizer Dok- und Spielfilmen, 1997-2000 Wiss. Mitarbeiter der Unabhängigen Expertenkommission: Schweiz-Zweiter Weltkrieg ("Kommission Bergier"), seit 2000 am Institut für Jüdische Studien, Universität Basel, und am Zentrum für Antisemitismusforschung, TU Berlin. Diverse Publikationen.
Eine von 43 Geschichten aus dem Buch "So einfach war das."
© Jüdisches Museum Hohenems.
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