Immer wieder, wenn ich heute über den Margaretengürtel fahre, dort, wo er in einer großen Kurve zur Gumpendorfer Straße hin schwenkt, sehe ich vor mir, wie wir damals, vor 66 Jahren, an einem nebeligen Wintertag um 6 Uhr früh, zum Westbahnhof fuhren. Meine Mutter, mein Vater, den ich nie wieder sehen sollte, und ich.
Meinen Vater habe ich sehr geliebt, nicht nur, weil er - meine Lieblingsspeise kennend - mir immer riesige Schüsseln mit Schokoladepudding machte, sondern weil er ein wirklich, wirklich guter Mensch war. Jahrzehnte später habe ich sein Grab in Shanghai gesucht, bin mit einem Schiff den Yang Po-Fluss hinuntergefahren und habe bei mir gedacht: Papa, ich komme jetzt! - Aber das Grab war nicht mehr da, nur Hochhäuser.
Und dann waren wir also am Westbahnhof. Ich war schon eingestiegen und schaute zum Fenster heraus, eingezwängt zwischen den vielen Kindern, die von ihren Eltern Abschied nahmen. Wir alle hatten ein Pappendeckelschild um den Hals mit einer Nummer, damit man uns in England unseren Bestimmungsorten richtig zuteilen konnte. Die Eltern standen auf dem Perron und gaben noch letzte Ratschläge. Mein Vater, Fürsorgerat und sozialdemokratischer Funktionär, sagte: Nur nie in die Politik einmischen. - Ja, Papa, sagte ich, habe mich aber in späteren Jahren nicht daran gehalten.
Dann fuhr der Zug ab. Als wir die deutsche Grenze überquert hatten und in Holland einfuhren, stimmte ich die "Marseillaise" an und alle Kinder, die das Lied kannten, sangen mit. Und dann waren wir in England und ich fuhr zu meinem Wohltäter, dem Mann, der es mir ermöglicht hatte, Hitler zu entkommen, und der mich nun zum Studium auf ein College schicken würde - dachte ich.
© Mandelbaum Verlag 2005.
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