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Berta Schumich

Erinnerungen [03]: Brenesseln im Zoo / ca. 1945

Wenn alle Vorräte im Haus aufgegessen sind, wenn man nichts mehr zu kaufen kriegt, muss man sich was einfallen lassen um zu irgendwelcher Nahrung zu gelangen. Steine, Schutt und Asche bedeckten unsere Straßen in der Stadt, die Ernte von fünf Jahren Krieg. Man musste zur Mutter Natur zurückkehren, schauen, ob sie für ihre missratenen Kinder, die Menschen, noch was bereithält. Die nächste größere Grünfläche für mich war der Schönbrunner Park. Ein leckeres Süppchen aus Brennnesseln, gekocht auf Asterln und Zweigerln der vielen großen Bäume, das schwebte mir vor, als ich mich auf den Weg machte.

"The early bird catches the worm", stand in meinem englischen Lehrbuch, aber ich war kein "früher Vogel", die waren schon vor mir da und hatten das Beste bereits abgeholt. Vor allem das Holz, das man ja zum Betreiben der diversen Behelfskochstellen brauchte, war weg. In den Alleen war alles Holz, das größer als ein Zündholz war, verschwunden. Wie ausgekehrt. So kam ich nur mit dürftiger Beute nach Hause zurück. Aber ich musste doch immer wieder hin, der Park ist ja groß und das Glück lacht nur dem Ausdauernden. Und es lachte!

Die kriegswichtigen Ziele, die die Herren Bombenflieger anvisiert und getroffen hatten, waren in diesem Fall das Palmenhaus, die Gloriette, ein Trakt des Schlosses selbst und der Tiergarten. Die Tiergartenmauer war beschädigt, aber wieder mit Maschengitter verschlossen. Ich sah aber ein kleines Loch in dem Gitter, kroch durch und - stand im Paradies. Hierher war noch kein Mensch gekommen. Hüfthohe Brennnesselstauden, jung und saftig, füllten bald meine Tasche. Auch gab es Stallungen für kleine ziegenartige braune Tiere, eine Art Rehe, in großer Menge zusammen gesperrt, hinter Gitter, die stürzten auf mich zu, als sie mich sahen und bettelten um Futter. Ich war sofort bereit, pflückte Gras das sie selbst ja nicht erreichen konnten und stopfte es in die Mäulchen, die sie mir durch das Gitter entgegenstreckten.

Im Gehege daneben stand ein Hirsch, "Wapiti" stand auf dem Zaun. Er kam nicht angelaufen, blieb stehen, hinten, und sah mich nur an. Ich hielt ihm Gras entgegen und langsam kam er auf mich zu, sah mich an und nahm das Futter entgegen. Ich empfand das als eine besondere Begegnung, eine Beglückung, ein Wesen, frei von Gier, wie aus einer anderen Welt. Ich besuchte ihn täglich durch längere Zeit. Auch für meine eigenen Brennnesselmahlzeiten. Er stand dann oft schon beim Gitter als würde er auf mich warten, ich empfand das wie eine Freundschaft. - Ich weiß nicht, war er vielleicht krank, dass er sich so eigenartig verhielt? Oder war er ein verwunschener Prinz? Ich litt stark an Hunger und an Unterernährung und vermute, dass sich der Körper, wenn er nichts Materielles bekommen kann, durch die Phantasie vor der Verzweiflung schützt.

Zu den Gehegen gehörten auch Hüttchen, die mit Holzschindeln bedeckt waren, die aber zerstört und zersplittert herumlagen. Klar, dass ich fortan mit zwei Taschen täglich nach Hause ging. Ich besuchte auch die anderen Teile des Tiergartens. Es war schrecklich! Es gab ja kein Wasser in Wien - auch hier nicht. Die Bassins, in denen sich sonst die Pelikane und andere Wasservögel aufgehalten hatten, waren zerstört und ausgetrocknet. Auch das Seehundbecken, einst ein lustiger Anziehungspunkt, wenn die Wärter bei der Fütterung den Tieren die Fische zuwarfen und diese munter danach schnappten; aber nun - kein Wasser, keine Fische, keine Seehunde.

Auch das Aquarium für exotische Tiere, das immer extra beheizt wurde, gab's nicht mehr. Die Schlangen haben sich davon gemacht, hieß es. Vielleicht haben sie sich selbst durchbringen können. Einmal ließ ich mich erschöpft auf einen Baumstamm nieder, ich dachte mir, das ist aber eine sonderbare Rinde an diesem Baum, so höckerig, aber es war ein totes Krokodil. Den Kopf hatte jemand mit Laub bedeckt, das war auch ein Schrecken. Dann hörte ich einmal, mitten am Tag, einen Heulton, so wie es nach einem Fliegeralarm die "Entwarnung" gab. Ein gleich bleibender Ton - das sind die Wölfe, die haben Hunger, hieß es.

Es wurde auch schon gearbeitet, mit ganz wenig Personal, die Trümmer weggeräumt, die Ställe gereinigt, immer etwas repariert. Etwas ist mir aufgefallen: es waren sehr viele russische Soldaten da, in sauberen Ausgehuniformen, die sichtlich behaglich herum spazierten, auch den Zivilisten leutselig zulächelten. Ich dachte mir, die benehmen sich wie die Hausherren! Ein Jahr später las ich dann, dass sich die damalige Tiergartenleitung nicht zu helfen wusste und bei der russischen Kommandantur um Hilfe bat. Und es ist tatsächlich bewilligt worden, dass ein Teil der Truppenverpflegung für die Tierfütterung zur Verfügung gestellt wurde. Dafür waren sie sicher dort als Ehrengäste geladen.

Aber alles hat ein Ende, die Brennnesseln wurden mit der Zeit ungenießbar, sie brannten noch im Hals, waren nicht mehr weich zu kriegen. Da musste ich mich entschließen, ein anderes Gebiet zur Nahrungsbeschaffung aufzusuchen. Um meinen tierischen Freund hat mir Leid getan dass ich ihn verlassen musste, aber es ging nicht anders.

Berta Schumich für WGMSG, 11.12.2005

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