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PERSÖNLICHE ERINNERUNG:
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Dolfi Schumann

Wenn ich heute mein Leben überschaue ... / 8.6.1916

Vorwort:

Frau Dolfi Schumann feiert am 8. Juni 2006 ihren 90. Geburtstag.

In diesen 90 Jahren hat sie mehr geschrieben als die meisten anderen Menschen in diesem Land. Wir (der Verein »Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen«) bewahren einen bescheidenen Bruchteil ihrer schriftlichen "Veräußerungen" aus neun Jahrzehnten in unserem Lebensgeschichten-Archiv auf und freuen uns, damit unter anderem auch folgende Bonmots für die Ewigkeit zu erhalten:

"Weil ich in der Jugend nicht studieren durfte, bin ich eine ewige Studentin geworden ..."

"Wir wurden nicht erzogen, allerdings auch nicht verzogen oder verbogen ..."

"'Wenn die Hochzeitskutsche kommt, dann krieche ich unters Bett!' - Wie das so geht im Leben - ich ging zu Fuß zum Standesamt ..."

"Die Entwicklungen und Entdeckungen gehen weiter: Sobald die Männer zur Hauswirtschaft verpflichtet werden, wird voll automatisiert ..."

"Vielleicht sind manche Menschen einfach nur verhinderte Briefe-Schreiber - weil der Partner ständig da ist und die 'Notdurft' anderweitig verrichtet werden kann ..."

Aus Dolfi Schumanns Zitatenschatz

Im Übrigen warten wir gerne noch eine Weile mit ihr gemeinsam auf die Erfüllung ihres letzten großen Wunsches vom Januar 1997, als sie schrieb:

"Eines möchte ich noch erleben, dass wir eindeutige Zeichen aus dem All empfangen, dass wir nicht allein im Kosmos sind - denn das wäre zu blöd, bei unserer Beschränktheit! Diese Wesen brauchen ja nicht gleich selber kommen ..."

In diesem Sinne wünschen wir Dolfi Schumann (und uns) noch viele schöne, unverbogene, lehrreiche und erwartungsfrohe Jahre!

Das Team der "Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen"

"Wenn ich heute mein Leben überschaue ..."

Als der Briefwechsel mit meinem Mann 1945 wegen Gefangennahme des Empfängers abbrach, war es mir bereits so zur Gewohnheit geworden, meine täglichen Erlebnisse schriftlich niederzulegen, dass ich mit Tagebuchaufzeichnungen fortsetzte. Erst wohl nur aus dem Grunde, um meinem Mann später authentisch berichten zu können. Ich wusste aber nun auch, wie spannend und aufschlussreich es für jeden Menschen ist, seine Gedanken nach Jahren wiederzulesen und den inneren Wandel und - hoffentlich - das innere Wachsen daran ablesen zu können.

Tagebuchschreiben bereichert ein Leben sehr. Abgesehen davon, dass man sich selber den spannendsten Roman schreibt, erzieht es einen zur Ausdauer, zum Festhalten an etwas, was man sich vorgenommen und als wichtig erkannt hat.

Mit der Pflege dieser beiden Eigenschaften allein, nämlich Ausdauer und Fleiß, kann man alles im Leben erreichen. Eine gewisse Geläufigkeit sich schriftlich auszudrücken, ein bewussteres Leben, schärfere Beobachtung etc. kommen als Extragewinn noch hinzu. Und die Zeit war weiß Gott interessant genug. Wenn ich manchmal in so genannten "guten Zeiten" mit Eintragungen etwas nachlässig wurde - sobald ich Kummer hatte oder etwas Großes erlebte, griff ich unweigerlich zum Tagebuch - als Sicherheitsventil.

Ich bin ein mitteilsamer Mensch, und die meisten Menschen unterschätzen die Wichtigkeit der Aussprache für ein harmonisches Eheleben. Wie anders sollen wir erfahren, was den Partner bewegt, und man begeht ein großes Unrecht, wenn man sich dem Anderen innerlich verweigert oder durch Nicht-Eingehen auf sein Mitteilungsbedürfnis ihn in sich selber zurückstößt. Männer machen da die meisten Fehler. Das wechselseitige Gespräch verbindet eine Ehe besser als Sex, und vor allem dauerhafter. Meines Erachtens beginnen die Missverständnisse erst durch Nicht-Sprechen. Eine weitere Erfahrung habe ich gemacht: Zeiten, in denen ich kein Tagebuch führte, sind unwiederbringlich und spurlos untergegangen, während jede noch so geringfügig erscheinende Eintragung eine feste Brücke zum Heute darstellt.

Wenn ich heute mein Leben überschaue, meine ich, eine unsichtbare Hand zu spüren, die mich bisher geführt hat. ... Diese Hand führte mich gnädig durch schwerste Zeiten und drückende Armut in einer kinderreichen Familie just in dem Moment hinaus, da die Verhältnisse auf mein Gemüt zu drücken begannen. Zu gegebener Zeit führte sie mir einen Partner zu, der mir bestimmt war. Dass sich die Wahl nach 16 Jahren als Irrtum erwies, soll keine Kritik an der Führung sein. Diesen Weg durch Scheidung in die Einsamkeit bin ich nicht gerne gegangen, aber ich akzeptiere ihn heute nach weiteren 18 Jahren als direkten Weg zu mir selbst.

Ich war an einem Punkt angelangt, wo es kein Zurück mehr gab, wollte ich nicht innerlich Schaden leiden. Ich lehnte mich nur kurz auf mit der Frage: Warum mir das? - und erhielt die Antwort: Warum nicht dir? Dieser Dialog fand gerade vor der Schottenkirche statt. Ich ging hinein, nicht um Hilfe zu erflehen, sondern um Kraft zu erbitten, es zu ertragen. Dann begann ich den Weg allein zu gehen. Einige Abzweigungen hätten sich geboten, aber sie waren nicht meine Straße.

Unter der Tatsache, dass ich keine eigenen Kinder habe, leide und litt ich nie. Dreimal habe ich diese Chance gehabt, jedoch immer zu unpassenden Zeiten, zuletzt kurz vor der Scheidung. Ich wollte nicht einem kleinen Kind, meinem Kind, aufhalsen, etwas zu retten, das wir selbst nicht retten konnten. Auch diese Entscheidung bedaure ich nicht.

Rudi hatte mir so lange eingeredet, dass ich mit Geld nicht umgehen könne, bis ich es ihm glaubte. Seit ich allein lebe, habe ich von null Schilling ein ansehnliches Bankkonto aufgebaut. Sogar in der Pension ist es noch etwas gewachsen. Das Geld ist mir einfach übrig geblieben, obwohl ich immer schöne Reisen in ferne Länder gemacht habe und auch viel Geld in die Wohnung investierte. Immer mit dem Ziel, es im Alter schön und bequem zu haben. Nur Auto habe ich mir keines angeschafft, daher konnte ich mir das Übrige leisten. Auch Fernseher habe ich nicht, weil ich keine Zeit zum Vergeuden habe; ich schätze Lesen und Studieren viel höher ein. Es kümmert mich nicht, was die Leute deshalb von mir denken.

Mit 55 ging ich freiwillig in Frühpension, um mich endlich mit den Dingen zu beschäftigen, die mir Spaß machten, wozu mir das Berufsleben nie Zeit ließ. Das bedeutete natürlich, freiwillig auf mehr Geld verzichten und sich nach der Decke strecken. Auch diesen Entschluss habe ich keinen Augenblick bereut. Das erste Jahr benützte ich dazu, die stenographierten Tagebücher von 22 Jahren zu übertragen. Dann begann ich, ein Familienbuch zu schreiben. ...

Nun, da ich keine Wünsche mehr habe, muss ich wohl damit rechnen, dass die "schönen Tage von Aranjuez" bald vorüber sein werden. Ich bin bereit, meine Sachen sind geordnet. Wenn ich mit dem Familienbuch nicht fertig werde, macht es auch nichts. Der Anfang ist gemacht, den Rest kann jeder Interessierte aus den Tagebüchern herauslesen. Ich vertrödle die Zeit nicht, sondern arbeite auf den Tag Zero hin. Bleibt mir nur noch ein Wunsch: ein rasches Ende, wenn es sein muss! Sollte mir Gott auch dies gewähren, hat er mich wirklich lieb gehabt, und ich bin dankbar.

(Wien, 14. Februar 1975)


Seit dem Februar 1975 sind acht Jahre vergangen. Meine Tagebücher sind auf 28 Mappen angeschwollen. Weil niemand sich mehr die Zeit nehmen wird, sie zu lesen, will ich hier eine Zusammenfassung der interessantesten Ereignisse geben. ...

(Wien, 1. Juli 1983)


Seit Juli 1983 sind wieder 14 Jahre vergangen - Zeit, neue Bilanz zu ziehen. Was ist seither passiert?

Mein unbedeutender Lebensweg ist ausgiebig dokumentiert im Archiv der Stadt Wien. Im März 1996 erschien im Böhlau Verlag ein Buch unter dem Titel "Geboren 1916", das u. a. etwa 60 Seiten meiner Memoiren enthält und das mir in der Folge viel Freude bereitet hat. Aufregungen hat es genug gegeben. ...

Daneben ist mein 80. und 81. Geburtstag über die Bühne gegangen. Man beginnt zu überlegen: Ich finde, die ersten 80 Jahre sind die schwersten, ab dann ist es eine immer raschere Folge von Geburtstagen. Die angehäuften Jahre bringen gewisse Annehmlichkeiten mit sich. Jeder möchte einem die Koffer tragen, die Stiegen hinunter helfen, ältere Männer stehen in der Straßenbahn auf.

Wenn man einen Namen vergisst oder Wörter verwechselt - macht nichts, eine leichte Gehirnerweichung erwartet man, wenn man einmal 80 erreicht hat - es ist die zweite Kindheit. Nun wundert man sich, dass man noch allein gehen kann und ab und zu einen hellen Moment hat.

Mit 50 oder 60 bekommt man vielleicht noch einen winzigen Diamanten, mit 80 einen Stock oder ein Hörgerät. Was ich dann hören werde, habe ich bestimmt schon öfter gehört. Nur habe ich dann nicht mehr die Ausrede, etwas nicht gehört zu haben.

Wie gesagt, ab 80 wird das Leben amüsant, solange man noch gesund ist.

(Wien, 8. Juli 1997)


Dolfi Schumann für WGMSG, 29.5.2006

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