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Dieter Schrage

Als Siebenjähriger wusste ich: Nazis töten Juden / 1940 - 1949

Während des Krieges und in der ersten Nachkriegszeit lebte ich mit meinen Eltern in Singen am Hohentwiel in Südbaden. Der Hegau mit dem Hohentwiel ist eine Gegend in der die einstigen knapp 700 m hohen Vulkane wie riesige Gupfe in der Landschaft stehen. Dabei wohnten wir nahe zum Bodensee und - was sich später als äußerst vorteilhaft erwies - nahe zur Schweizer Grenze.

Mein Vater, ein Ingenieur für Werkzeugmacherei, war Betriebsleiter in einem großen Aluminiumwerk. Der Vorteil unseres Wohnortes nahe der Schweizer Grenze war, dass die Alliierten, nachdem sie einmal versehentlich Schweizer Gebiet bombardiert hatten, mit der Schweiz übereingekommen waren, entlang der Grenze auf beiden Seiten einen Gürtel zu ziehen, in dem die Häuser und Straßen nachts beleuchtet blieben. Sie bildeten eine Schutzzone in welcher keine Bomben abgeworfen werden durften.

Mein Vater konnte auch während des Krieges in das Nachbarland reisen, um dort berufliche Angelegenheit zu erledigen, das heißt, um dort die Entwicklung bestimmter kriegswichtiger Flugzeugteile zu koordinieren. Für mich war das natürlich toll, da mein Papa so für mich und meine Mutti Schokolade mitbringen konnte.

Durch eine tragische Begebenheit während solch einer Reise, erfuhr ich - ich war damals sieben oder acht Jahre alt - dass die Nazis Juden brutal verfolgten und ermordeten. 1942 oder 43, abends von einer Schweiz-Reise heimgekehrt, erzählte mein Vater tief erschüttert, dass auf der Hinfahrt in seinem Abteil ein älteres Paar gesessen hatte, das, je näher es der Grenze kam, immer nervöser wurde. Mein Vater, ein leutseliger Mensch und politisch gut informiert, ahnte etwas und versuchte auf die Alten beruhigend einzureden.

Vor der Grenze kam die deutsche Passkontrolle, ein Grenzer in Uniform und ein Gestapo-Beamter in Zivil. Mein Vater, der nach seinen vielen Grenzübertritten als alter Bekannter keine Pass mehr vorzeigen musste, versuchte als eine Art Ablenkung, den Gestapo-Beamten in ein Gespräch zu verwickeln, doch dieser betrachtete die Pässe des Paares sehr genau und sagte schließlich, er müsse die Pässe kurz mitnehmen und käme gleich zurück.

Der Uniformierte wartete auf dem Gang in der Nähe der Türe. Mein Vater wandte sich nun - er wollte irgendetwas Aufmunterndes sagen - wieder den beiden Mitreisenden zu, bekam aber keine Antwort und bemerkte sogleich ihre eigenartig zusammengesunkene Haltung. Sofort begriff er, nachdem er den Alten am Arm gerüttelt hatte, was geschehen war.

Beide waren tot. Bei der sogleich eingeleiteten, sehr kurzen Untersuchung im Abteil stellte sich heraus, dass das ältere Paar, da die Ausreise mit gefälschten Pässen zu misslingen schien, im Mund aufbewahrte Giftkapseln, wahrscheinlich Zyankali, durchbissen hatten und sofort tot waren.

Soweit die Schilderung eines tragischen Ereignisses, das meinen Vater, nach Hause zurückgekehrt, auch viele Stunden danach noch sehr betroffen machte. Um mir die Hintergründe für diesen sekundenschnellen Selbstmord des alten, offensichtlich jüdischen Paares erklärlich zu machen, erzählte mir mein Vater auch, dass die Nazis - diese waren mir als SA, SS, Hitlerjugend und Adolf Hitler und vor allem auch aus dem Radio, einem so genannten Volksempfänger, ein Begriff - die Juden brutal verfolgten und ermordeten.

Die Willkürherrschaft der Nazis war bei uns zu Hause insofern ein ständiges Thema, da mein Vater, der in seiner Abteilung zahlreiche als Fachkräfte qualifizierte Fremdarbeiter beschäftigte, ständig mit der SA-Lagerleitung Ärger über deren pragmatische Auffassung hatte, dass man Arbeiter, auch wenn sie Zwangsverpflichtete waren, im Rahmen der Möglichkeiten ordentlich behandeln solle, da von ihnen ja auch eine qualitätsvolle Arbeit, vor allem ohne Sabotageversuche, erwartet würde.

Immer wieder schimpfte der im Beruf rational denkende Techniker, über die verbohrten und sturen Nazischädel. Das hinderte ihn aber nicht daran, manchmal mit einigen in Singen zur Genesung stationierten SS-Soldaten im Wirtshaus, oder auch zu Hause, einiges hinter die Binde zu kippen. Ich vermute, dass er die eher an fernen Kriegsfronten unheilvoll wirkende SS ungleich sympathischer fand, als die heimische SA, die ihm in seinem beruflichen Alltag so viele und aus seiner Sicht völlig unnötige Schwierigkeiten machte.

Vater konnte den kleinen, fetten SA-Führer partout nicht ausstehen. Und so fand ich auch kaum etwas dabei, dass wir Kinder, es waren wenige Tage nach Kriegsende, morgens auf dem Weg zum Fußballspielen, den dicken, nun entmachteten SA-Lagerleiter - jahrelanger Intimfeind meines Vaters - an einem Baum vor seinem Einfamilienhaus erhängt vorfanden.

Ich erinnere mich noch heute an seine heraushängende, dunkle Zunge und seine SA-Kappe schief auf dem Kopf. Sein Erhängen war wohl ein Racheakt einiger nun befreiter Fremdarbeiter. Es waren vielleicht die Gleichen, mit denen jetzt mein Vater zwei Nächte lang das Ende der Nazi-Herrschaft gefeiert hatte.

In Singen waren mit Ende des Krieges französische Truppen, das heißt zunächst Marokkaner, die als besonders unangenehm galten, einmarschiert. Diese Kampfeinheiten wurden dann sehr bald durch reguläre französische Besatzungstruppen abgelöst. Das führte dazu, dass in der grünen, ruhigen Vorstadtstraße in der wir wohnten, die deutschen Familien - außer uns - fast alle ihre Einfamilienhäuser verlassen mussten und statt ihrer die französischen Besatzungsoffiziere mit ihren Familien einzogen.

In unserem Falle wurde honoriert, dass mein Vater mit seiner Technikervernunft sich über Jahre für eine den Umständen entsprechende anständige Behandlung der Fremdarbeiter in den Aluminiumwerken eingesetzt hatte. Und so kam es, dass fast alle meine Spielgefährten dieser Jahre französische Buben und Mädel waren.

Auch erinnere ich mich noch an eine Begebenheit aus den ersten Besatzungswochen, von der meine Mutter noch Jahre später erzählte. Es hatte an der Tür geläutet und meine öffnende Mutter sah zwei baumlange, dunkelhäutige Besatzungssoldaten mit weißen Stoffhandschuhen vor sich stehen. Sie grüßten, sich höflich verbeugend und fragten, so erzählte meine Mutter: "Madame. Nix Wein, nix Schnaps? Wir zahlen." "Nix Wein, nix Schnaps, nix im Haus", antwortete erschrocken, aber nicht der Wahrheit entsprechend, meine Mutter.

Die beiden, üblicherweise "Neger" genannt, verbeugten sich höflich und gingen. Doch bald darauf standen die beiden "Neger" wieder vor der Haustür, jeder der beiden streckte - wieder in weißen Handschuhen - meiner Mutter ein geschlachtetes Huhn entgegen. "Präsent, Madame", sagte der eine. "Kochen. S´il vous plaît!" sagte der andere, auf sein Huhn deutend.

Die Hühner hatten die beiden offensichtlich in einem Hühnerstall ein paar Häuser weiter geklaut. Meine Mutter war lange Zeit äußerst beeindruckt davon, wie geschickt der eine Soldat das Huhn rupfte und zerlegte, während der andere ihr beim Zubereiten des frischen Salates half. Entgegen ihrer Beteuerung beim ersten Auftauchen der beiden an der Haustür, nichts alkoholisches im Haus zu haben, holte sie jetzt eine angebrochene Flasche mit Zwetschkenbrand unter dem Sofa hervor und schenkte ein.

Als dann noch mein Vater, kaum verwundert über den fremden Besuch, rechtzeitig zu dem ungeplanten Essen nach Hause kam, wurden aus dem einen Glas Zwetschkenbrand dann noch mehrere. Doch nachdem sie mehrmals auf die Uhr geblickt hatten, brachen die Soldaten plötzlich eilig, sich aber freundlich bedankend, auf. Sie wollten den baldigen Zapfenstreich nicht versäumen.

In nächster Zeit kamen dann manche andere, deutsche, schweizerische oder auch französische Besucher. Vor allem der kommunistische Vizebürgermeister war jetzt häufig bei uns zu Gast und brachte immer einen großen Krug Most und für mich und meine Mutter Apfelsaft mit. Mein Vater musste weiterhin beruflich in die Schweiz. Zwei Schweizer Fahnen hingen nun vor dem Fabriktor der Aluminiumwerke und Vater hatte ein Dienstauto und ich glaube auch einen Chauffeur.

Das Auto, ein Peugeot mit breiten Kotflügeln, der dann typisch für französische Kriminalfilme wurde, war ein damals üblicher Holzvergaser, der hinten einen mindestens einen Meter hohen Verbrennungskessel aufmontiert hatte, in den säckeweise kleine Holzscheite eingegeben wurden, um dort als Benzinersatz in ein Treibgas umgewandelt zu werden.

Dieter Schrage für WGMSG, 11.12.2005

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