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PERSÖNLICHE ERINNERUNG:
  • AutorIn: Carla Stanek
  • Wohnort: Josefstadt, Wien
  • Land: Österreich

Schreibende Hand mit Schriftzug DIE DIGITALE BIBLIOTHEK

Carla Stanek

In Montecatini Terme / ca. 1945

Im Hause meines Onkels Agostino, dem ältesten Bruder meiner Mutter, fügten wir uns sofort in den dortigen Lebensrhythmus ein. Wir hatten schon die Sommermonate der Jahre davor dort verbracht und meine Mutter hatte, als sie noch unverheiratet war, bei der Familie meines Onkels gelebt.

Das Haus war eine schöne, große, zweistöckige Villa etwas außerhalb des Ortskerns gelegen, mit einem gepflegten, nach Zypressen duftenden Garten. Rundherum gab es nur Wiesen, Felder und Olivenbäume, gegenüber war ein großer Tennisplatz. Im oberen Stock waren die Schlafzimmer. Auf der linken Seite des Korridors, der zu einem Balkon mit Blick in den Garten führte, unser Zimmer, das meines Großvaters - Nonno (ital.: Großvater) Ciccio (Francesco) -, dem Vater meiner Mutter, meiner beiden Cousins, Carlo und Francesco (Cecco), auf der anderen Seite das Schlafzimmer von Onkel (Zio) Agostino und Tante (Zia) Rita sowie zwei große Badezimmer.

Im unteren Stock, den man über eine große Marmortreppe betrat, befand sich auf der linken Seite des Korridors das Arbeitszimmer meines Onkels, ein großer Salon mit einem toskanischen, offenen Kamin, auf der rechten Seite das Speisezimmer und daran anschießend eine riesige Küche, durch welche man wieder in den Garten an der Hinterseite des Hauses gelangte.

Die Küche was das unumschränkte Hoheitsgebiet der Köchin Gigia. Sie war nicht nur Köchin, sondern ein Mitglied der Familie. Sie war Mitte zwanzig, sehr hübsch und uns Kindern absolut verfallen. Wir konnten von ihr einfach alles haben. Sie verwöhnte uns, wo sie nur konnte. Sie war die Schwester des Adjutanten meines Onkels Agostino, Vallero, der ihm auf den Feldzügen in beiden Weltkriegen treu zur Seite gestanden war.

Einen Hausgenossen habe ich vergessen zu erwähnen: unseren Hund Bobby. Bobby war ein großer, cremefarbiger Hund - ich glaube, eine nicht genau definierbare Straßenmischung. Er war von einer unglaublichen Geduld mit uns Kindern und einer außergewöhnlichen Anhänglichkeit. Meine Cousins waren für mich wie Geschwister und sind es bis heute. Carlo ist fast auf den Tag genau so alt wie ich. Wir sahen uns damals ähnlich, waren genau gleich groß und wurden von unseren Müttern auch sehr oft gleich angezogen (ich musste natürlich Hosen tragen), so dass wir von Fremden für Zwillinge gehalten wurden.

Wir waren von früh bis spät zusammen, doch die äußerliche Eintracht täuschte. Obwohl wir sehr aneinander hingen, stritten wir unentwegt.

Der Grund dafür waren - wie meine Zia Rita oft sagte - meine Launen und "weil ich von meiner Mutter so verwöhnt wurde". Sie war in meinen Augen sehr streng, aber ich wusste wohl, dass sie mich wie ihr eigenes Kind liebte. Sie hatte meinen Onkel sehr jung kennen gelernt. Zio Agostino und Zia Rita - so erzählte mir meine Mutter - hatten ganz überraschend und aus großer Liebe geheiratet. Auch für mich war diese große Liebe zwischen den beiden deutlich spürbar.

Cecco ist 12 Jahre älter als Carlo und ich, und war damals also schon fast erwachsen. Bevor meine Mutter meinem Vater nach Berlin gefolgt war, war sie für Francesco wie eine Mutter gewesen. Aus Gesprächen, die ich viel, viel später mit ihm führte, erfuhr ich, dass sie für ihn bis zu seinem 12. Lebensjahr die wichtigste Bezugsperson gewesen war.

Francesco galt in der Familie als "Genie", weil er tagaus tagein in seinem Zimmer eingeschlossen saß und studierte. Er sprach bei allen - vor allem politischen - Diskussionen der Erwachsenen mit und wurde als vollwertiger Partner von diesen akzeptiert. Für ihn waren wir - Carlo und ich - so etwas wie lästiges Ungeziefer. Aber seine Großmäuligkeit konnte trotz allem nicht darüber hinwegtäuschen, dass er uns liebte.

Mein Onkel, Agostino, war das Haupt der Familie. Wie soll ich ihn beschreiben? Noch heute, wenn ich an ihn denke und während ich dies schreibe, laufen Tränen über meine Wangen. Er war für mich ein zweiter Vater, eine Quelle der Sicherheit, Geborgenheit, Güte und Zärtlichkeit. Er wusste um meine Sehnsucht nach meinem Vater. Deshalb durfte ich immer nach jedem Essen, wenn der Tisch abgeräumt war und die anderen das Speisezimmer verlassen hatten, auf seinen Knien sitzen. Obwohl er müde - und wie ich viel später erfuhr - sehr krank war, nahm er sich so viel Zeit wie ich brauchte, um sich meine kleinen Sorgen anzuhören, mich zum Lachen zu bringen oder mir noch eine meiner geliebten "Marrons glacés" in den Mund zu schieben.

Er war 1900 geboren. Er musste den 1. Weltkrieg mitmachen und im 2. Weltkrieg in den Feldzug nach Abessinien ziehen, wo er schwerverwundet wurde. Auf Grund dieser Verletzung begann er, gegen die unerträglichen Schmerzen Morphium zu nehmen. Nach und nach wurde er süchtig. In der Zeit, als wir in seinem Haus wohnten, war er bereits unrettbar der Sucht verfallen, in die er auch seine Frau hineingezogen hatte.

Diese schrecklichen Tatsachen wurden vor uns Kindern selbstverständlich verborgen gehalten. Ich kann mich jedoch noch ganz deutlich an die vielen Ampullen und Spritzen im Badezimmer erinnern. Es wurde uns auf unsere Fragen immer wieder gesagt, dass Onkel und Tante an einer "tropischen Erkrankung" - worunter ich mir natürlich gar nichts vorstellen konnte - leiden würden. Noch etwas anderes, sehr geheimnisvolles umgab meinen geliebten Zio Agostino. In regelmäßigen Abständen bekam er Besuch von einer Gruppe würdiger, dunkel gekleideter Männer. Einige davon waren mir als Freunde des Hauses sehr vertraut: unser Hausarzt, Dottor Calamandrei, der Apotheker, Dottor Innocenti, ein Geschäftsmann, Signor Bagnoli usw.

Sie kamen einzeln und in einigen Zeitabständen, gingen direkt in den großen Salon im Erdgeschoss und schlossen sich darin ein. Wir durften uns nicht rühren. Wir mussten an diesen Abenden früh zu Bett und sogar der Hund Bobby wurde weggesperrt.

Viel später erfuhr ich, dass diese Männer sich - wegen des herrschenden faschistischen Regimes - unter größter Lebensgefahr in unserem Haus trafen. Es war die Freimaurerloge, deren Meister mein Onkel war.

Mein Großvater, Nonno Ciccio, muss damals zwischen 70 und 80 Jahre alt gewesen sein. Er verkörperte für mich Sizilien. Er sprach mit seinen Kindern - also mit meiner Mutter und mit meinem Onkel Agostino - orthodoxes Sizilianisch, das ja kein italienischer Dialekt, sondern eine eigene Sprache ist. In dieser Sprache pflegte mein Großvater auch, weil er schon schwerhörig war, ganz laut in seinem Zimmer, während er unablässig hin und her ging, vor sich hinzuschimpfen: auf Mussolini, auf "Kitler" (im Italienischen wird das H bekanntlich nicht ausgesprochen, so dass er befand, den Herrn einfach so zu nennen), auf "die Deutschen", auf die Kirche, vor allem aber auf meine Zia Rita, die ihm die köstlichsten Gerichte, die Gigia zubereitete und die bis in sein Zimmer hinauf dufteten, - wie er meinte aus reinem Geiz - verweigerte, weil er wegen seines Gallenleidens - das er selbst nicht zu Kenntnis nehmen wollte - Diät halten musste.

Diesen Monologen, die wir Kinder - natürlich ohne sein Wissen - oft mitanhörten, habe ich es vor allem zu verdanken, dass ich noch heute - wie ich bei einer Reise nach Sizilien vor einigen Jahren mit Erstaunen feststellte - der sizilianischen Sprache mächtig bin.

Kurz nach unserer Abreise aus Berlin, nahmen die Bombardements an Häufigkeit und Intensität zu. Obwohl mein Vater fast täglich anrief und meine Mutter zu beruhigen versuchte, lebte sie in ständiger Angst und Spannung. Jeden Abend vor dem Einschlafen beteten wir gemeinsam zur "Madonnina", der Mutter Gottes, dass sie meinen Vater beschützen möge und dass wir ihn bald wiedersehen würden. Dann küssten wir die Fotografie meines Vaters, die in einem Rahmen auf meinem Nachtkästchen stand.

Mein Vater wurde für mich mit jedem Tag "abstrakter". Er bekam in mir nach und nach den Status eines heldenhaften Heiligen. Ich hatte große Sehnsucht nach ihm, obwohl ich nicht mehr genau wusste, ob ich mich nach den "konkreten" Vater, den ich in Berlin verlassen hatte, sehnte, oder nach dem Bild, das sich in mir formte und das ich vorher beschrieben habe.

Eines Tages - es muss Mitte 1943 gewesen sein - sagte mir meine Mutter, dass mein Vater bald zu uns nach Montecatini kommen würde. Er habe den Inhalt unserer Wohnung in Kisten verpacken lassen und den Transport nach Italien veranlasst. Meine Mutter war über diese Entscheidung sehr glücklich und auch alle anderen in der Familie waren erleichtert, da sich - wie wir aus dem verbotenen Abhören des alliierten Rundfunksenders wussten - die Kriegsereignisse immer mehr zuspitzten und die Angst um das Leben meines Vaters bei uns allen immer größer wurde. Ich spürte und war sicher, dass nun endlich alles gut werden würde. Doch mein Vater kam nicht. Es vergingen Wochen und Monate der schrecklichen Ungewissheit. Wir wussten nicht, ob mein Vater tatsächlich Berlin verlassen hatte und wo er sich befand. Auch die italienische Botschaft in Berlin, die uns vielleicht irgendeinen Anhaltspunkt hätte geben können, war für uns telefonisch nicht mehr erreichbar.

Schließlich hörten wir, dass das Viertel um die Botschaft durch Bomben dem Boden gleichgemacht worden war. Meine Mutter war in einem schrecklichen seelischen Zustand. Ich selbst hatte zwar Angst, aber eigentlich mehr um meine Mutter, als um das Leben meines Vaters. Ich war ganz sicher, dass er wiederkommen würde.

Das Leben für uns Kinder ging relativ normal weiter. Ich war inzwischen schon schulreif geworden und ging in Montecatini mit meinem Cousin Carlo in die Volksschule der Schwestern Don Bosco. Für mich war jeder Schultag eine neue, unsagbare Tragödie. Ich erinnere mich, dass ich den ganzen Vormittag am Rockzipfel der Suora Angela, einer jungen Schwester des Schulordens, hing und unablässig nach meiner Mutter schrie. Dass meine Mutter eben solange beim Gartengitter stand und mir - ebenfalls weinend - zuwinkte, machte die Sache für mich nicht besser. Der Schulbesuch war für uns beide so schrecklich, dass meine Mutter beschloss, mich einfach nicht mehr in die Schule zu schicken.

Wir hatten jedoch nicht mit meiner Zia Rita gerechnet. Sie konnte diese Entscheidung nicht akzeptieren und so riss sie mich fortan jeden Tag "gewaltsam" von meiner Mutter los und trug mich zur Schule. Ich erinnere mich als wäre es heute gewesen, dass ich in ihre Arme biss, mit den Fäusten auf sie einschlug und mit den Füssen in ihre Magengrube stieß. Sie ertrug dies alles heldenhaft, gab mich bei Suor Angela ab und bat sie, etwas strenger mit mir zu sein. Mit der Zeit fügte ich mich in mein schreckliches Schicksal und auch meine Mutter beruhigte sich.

Ich hatte zu jener Zeit sehr lange und gelockte Haare. Mein Cousin Carlo zog mich zwar, wenn wir wieder einen Streit hatten, an den Haaren, aber sie waren mein ganzer Stolz. Eines Tages hörte ich, wie Zia Rita und meine Mutter über meine Haare sprachen und meine Tante meinte, dass mein Haar nicht sehr robust sei, weil es doch seit meiner Geburt nie geschnitten worden war. Ich traute meinen Ohren nicht, als ich hörte, dass sie Carlo und mir eine Glatze schneiden wollten, um die Haare zu festigen. Meine Mutter war von dieser Aktion nicht sehr überzeugt, doch schließlich stimmte sie zu. Kein Weinen, keine Bitten und Flehen half, meine Haare wurde radikal abgeschnitten und - ehe ich mich versah - hatte ich tatsächlich eine Stoppelglatze. Um mich zu versöhnen, wurden Carlo und ich ganz gleich angezogen und eine Reihe von Fotos wurden von uns gemacht. Alle lachten und fanden uns beide ganz entzückend.

Im Frühsommer 1944 spielte ich mit meinem Cousin in unsrem Garten. Das Gartentor war - wie immer - geschlossen - uns war es streng verboten worden, ohne Begleitung eines Erwachsenen den Garten zu verlassen und - obwohl im Stadtgebiet Montecatinis keine Autos fahren durften - auf die Straße zu laufen. Hie und da fuhr eine carrozza (Fiaker) an unsrem Garten vorbei, das Geräusch der Pferdehufe auf dem Straßenpflaster war uns so vertraut, dass wir so gut wie nie von unseren Spielen aufsahen.

An jenem Spätsommertag des Jahres 1944 richtete ich mich von der Spielburg aus nasser Erde, die mein Cousin und ich gerade gebaut hatten, auf und sah die Straße hinunter.

In einer carrozza, die sich auf unser Haus zu bewegte, sah ich einen Männerkopf mit weißen Haaren leuchten. Ohne ein Wort zu sagen und so plötzlich, dass mich niemand aufhalten konnte, lief ich zum Gartentor hinaus und die Straße hinunter, der Kutsche entgegen. Laufend rief ich: "Papà, Papà!". Meine Mutter und meine Tante, die im Garten Kaffee getrunken hatten, waren in der Zwischenzeit aufmerksam geworden und liefen mir nach, um mich wieder zurück zu holen. Der Mann in der Kutsche stand auf und ich sah, dass es tatsächlich mein Vater war.

Die carrozza hielt an. Mein Vater hob mich auf und wirbelte mich, zugleich weinend und lachend, durch die Luft. Doch plötzlich hielt er inne und sah mich an. Ich konnte in seinem Gesicht die Enttäuschung ablesen. Er fragte mich und sah dabei strafend meine Mutter an, die inzwischen auch bei uns stand: "Dove sono i miei riccioli?" "Wo sind meine Locken?". Ich spürte Schmerz und Scham. Jetzt war mein Vater endlich da und nun gefiel ich ihm nicht mehr. Gleichzeitig hatte ich Angst, dass er meiner Mutter böse sein würde und dass ich dafür die Ursache wäre.

Nach einer kurzen Auseinandersetzung zwischen meiner Mutter, Zia Rita und meinem Vater, wurde das Thema Glatze vertagt. Es gab wirklich anderes in dieser schlimmen Zeit zu besprechen. Mein Vater war abgemagert, aber er versicherte immer wieder, dass es ihm gut gehe. Er erzählte über seine Odyssee der letzten zehn Monate. Wie er meiner Mutter beim letzten Telefonat mitgeteilt hatte, wurde ihm - und vielen anderen Diplomaten auch aus anderen Ländern - die Möglichkeit geboten, Berlin mit einem Sonderzug zu verlassen. Da seine Wohnung wegen dem Abtransport der Möbel nicht mehr bewohnbar war, hatte er in letzter Minute beschlossen, die letzte Nacht vor seiner Abreise in einem Hotel zu verbringen. In dieser Nacht wurde unser Haus in der Lutzowstraße bombardiert, das Haus stürzte ein und alles, was wir besessen hatten, blieb unter dem Schutt begraben.

Ich war ganz sicher, dass meine und meiner Mutter Gebete, die wir allabendlich vor dem Schlafengehen zur Madonnina schickten, es bewirkt hatten, dass mein Vater die letzte Nacht in Berlin nicht in seiner Wohnung verbracht hatte und so sein Leben retten konnte. Der Sonderzug war irgendwo angehalten, und alle darin befindlichen Passagiere in ein Konzentrationslager der Alliierten gebracht worden. Dort wurden sie zehn Monate festgehalten. Sie wurden zwar gut behandelt, durften jedoch mit der Außenwelt keine Verbindung aufnehmen, so dass uns mein Vater nicht benachrichtigen konnte. Die Zeiten wurden nun schlimmer und schlimmer. Die Kriegsereignisse machten sich immer mehr auch in Montecatini bemerkbar.

Mussolini manövrierte Italien in eine immer größer werdende Katastrophe, so dass er von seiner eigenen Partei abgesetzt wurde und statt ihm General Pietro Badoglio eingesetzt wurde. Dieser unterzeichnete am 8. September 1943 einen Waffenstillstandsvertrag (armistizio) mit den alliierten Mächten. Mussolini flüchtete nach Norditalien und rief mit Hilfe von Hitler-Deutschland im Städtchen Salò am Gardasee die Repubblica Sociale Italiana aus. Die Folge davon war ein gnadenloser Bürgerkrieg. Mein Vater, der sich nicht - wie viele seiner Kollegen - zu Mussolinis Salò-Republik bekannte, wurde aus dem diplomatischen Dienst entfernt und war daher arbeitslos. Die in Italien stationierten deutschen Truppen bekämpften die sich immer stärker formierenden Partisanen, nahmen alle Männer ohne Ansehung zwischen 15 und 50 Jahren gefangen und steckten sie in Arbeitslager. Aufgegriffene Partisanen wurden sofort getötet.

Viele Deutsche gerieten in den Bergen des Apennin in einen von Partisanen eingerichteten Hinterhalt. Für jeden aus dem Hinterhalt erschossenen Soldaten wurden hundert Zivilisten - meist Frauen und Kinder - an die Wand gestellt und erschossen. Ich erinnere mich an einen schrecklichen Vorfall, der sich in unmittelbarer Nähe jenes kleinen Dorfes, Massa Cozzile, in den Bergen bei Montecatini ereignete, wo wir - aus Angst vor den Bombardements - bei einem Bauern untergebracht waren.

Die Partisanen hatten ein Militärfahrzeug mit sechs deutschen Offizieren in die Luft gesprengt und getötet. Daraufhin wurden als Vergeltung alle Einwohners der Ortschaft, sechshundert Zivilisten, niedergemetzelt. Heute noch ist anstelle des einstigen Dorfes ein riesiger Friedhof zu sehen.

Mein Onkel, Zio Agostino, der noch zusätzlich als Großmeister der Freimaurer von den italienischen Faschisten gesucht wurde, musste sich mit meinem Cousin Francesco und vielen anderen Männern, um Festnahme, Deportierung oder Erschießung durch die Deutschen zu entgehen, versteckt halten. Sie waren in den Kellergewölben eines Frauenklosters am Gipfel eines nahen Berges im Apennin untergetaucht.

Mein Vater wurde, auf Grund seiner Kenntnis der deutschen Sprache, von der in Montecatini stationierten deutschen Kommandantur als Dolmetsch eingezogen. Nach seinem Dienst kam er täglich Mittags mit dem Fahrrad zum Bauernhaus, wo wir untergebracht waren, den Hügel heraufgefahren. Man konnte vom Haus aus weit in das Tal auf Montecatini hinabsehen und ich hatte mir angewöhnt, meinen Vater bei einer bestimmten Straßenkurve zu erwarten. Er setzte mich auf die Fahrradstange und wir fuhren dann gemeinsam das letzte Stückchen bis zum Haus.

Sein Diensteinsatz bei der deutschen Kommandantur hat sicher den Männern, die sich im Frauenkloster und in anderen geheimen Unterkünften versteckt hielten, das Leben gerettet. Mein Vater wusste nämlich genau, wo die Gesuchten untergetaucht waren und führte den - übrigens österreichischen - Kommandanten auf seinen Streifzügen durch die Region auf ganz andere Wege. Dieser hatte zu meinem Vater eine Art Vertrauensverhältnis aufgebaut, so dass er als er versetzt wurde meinen Vater rechtzeitig vor dem nachfolgenden Kommandanten, der als sehr grausam bekannt war, warnte. Ich erinnere mich, dass meine Mutter ganz alleine eines Nachts zum Frauenkloster aufbrach um ihren Bruder und die anderen zu warnen. Dadurch konnten sie rechtzeitig - allerdings unter größter Lebensgefahr - ein neues Versteck aufsuchen.

Aus dieser Zeit habe ich eine Fülle von Erinnerungen in meinem Gedächtnis aufbewahrt - schöne und schreckliche. Bei allem was wir Kinder taten, spürten wir die Bedrohung, die förmlich in der Luft lag. Wir durften uns nicht vom Haus entfernen, da sich in den nahen Wäldern Deutsche und Partisanen schwere Gefechte lieferten. Riesige Formationen von Kampfflugzeugen flogen - oft über Stunden - in großer Höhe über uns hinweg. Ich höre heute noch den dumpfen, unheilvollen Klang ihrer Motoren. Jede Nacht um Punkt Mitternacht flog ein amerikanisches Aufklärerflugzeug seine Runden. Ich erinnere mich, dass er uns schon so vertraut war, dass wir ihn "Cesarino" getauft hatten.

An einem heißen Nachmittag, als wir alle unsere Siesta hielten und mein Vater glücklicher Weise dienstfrei war, hörten wir plötzlich Schritte. Sie klangen so wie jene damals in Berlin, als die jüdische Familie abgeholt wurde. Es waren genagelte Soldatenschuhe, die auf dem gekachelten Dreschboden vor dem Haus diesen Klang erzeugten. Ich fuhr in Panik vom Schlaf auf. Mein Vater war in Sekundenschnelle aufgestanden und ging der Gruppe von deutschen Soldaten entgegen. Meine Mutter und ich blieben zitternd zurück. Wir hörten meinen Vater in der fremden Sprache sprechen. Nach einiger Zeit rief er uns herbei und bat meine Mutter Wasser, Brot und Wein zu bringen.

Die Soldaten waren müde und abgekämpft und wollten nur ein wenig ausruhen. Einer von ihnen nahm mich in seinem Arm und wirbelte mich lachend durch die Luft. Ich hatte ihn wahrscheinlich an seine kleine Tochter in seiner Heimat erinnert. Er hatte ein gutes, fröhliches Gesicht und roch nach Wein und Zigaretten. Ich hatte so große Angst, dass ich mich nicht einmal zu weinen getraute.

Eines Tages flogen Flugzeuge so tief über uns hinweg, dass wir die darin sitzenden Piloten genau sehen konnten. Einige Minuten später hörten wir den furchtbaren Lärm einschlagender Bomben. Wir wurden von der Druckwelle zu Boden geworfen und Sekunden später sahen wir, dass der Luftangriff Montecatini gegolten hatte. Das ganze Tal war in Rauch gehüllt. Flammen stiegen daraus empor.

Mein Vater war noch nicht zurück von seinem Dienst in der Kommandantur. Meine Mutter lief, kaum daß sie aufstehen konnte, die Straße hinunter nach Montecatini und rief immer wieder den Namen meines Vaters: "Achille! Achille!". Ich schrie in Panik und klammerte mich an den Rockzipfel meiner Tante Rita. Kurze Zeit darauf sah ich sie beide - Vater und Mutter - den Hang heraufkommen. Mein Vater war schon auf den Weg mit dem Fahrrad zu uns gewesen. Als er die Flugzeuge sah und den Bombenlärm hörte, hatte er das Fahrrad zu Boden geworfen und war den Weg heraufgelaufen, als ihm schließlich meine Mutter entgegenkam.

Die alliierten Truppen kämpften von der Luft aus solange, bis sich der letzte deutsche Soldat auf italienischem Gebiet ergeben hatte. Endlich zog die US - Army ein und befreite das ausgeblutete Italien. Am 28. April 1945 dankte König Viktor Emanuel I., der sich schon 1943 von Mussolini distanziert hatte, ab. Am 2. Mai 1945 wurde Mussolini, zusammen mit seiner Geliebten, Claretta Petacci, ermordet. Der Krieg war zu Ende. Nach einem kurzen Intermezzo, einer interregionalen Koalitionsregierung unter der provisorischen Führung des Thronfolgers Umberto II. von Savoyen, der danach zeitlebens ins Exil musste, wurde am 2. Juni 1946 die Republik ausgerufen.

Mein Vater litt mehr und mehr darunter, dass wir schon so lange Zeit zu Gast im Hause seines Schwagers Agostino wohnten. Er konnte finanziell nur sehr wenig zu den Kosten des Haushaltes beitragen. Immer wieder verkauften meine Eltern das Silber, das meine Mutter und ich damals aus Berlin retten konnten, um wenigstens einen kleinen Beitrag leisten zu können. Doch auch dieser Schatz ging langsam zu Ende.

Daher entschloss sich mein Vater eines Tages nach Rom zu fahren, um beim Außenministerium anzufragen, ob er wieder in den diplomatischen Dienst aufgenommen werden könnte. Seine faschistische Vergangenheit stellte nicht gerade die beste Empfehlung dafür dar. Lediglich die Tatsache, dass er nicht für Mussolinis Republik von Salò optiert hatte, bot einen kleinen Hoffnungsschimmer. Schon am Tag nach seiner Abreise rief er an. Man hatte sofort zugestimmt, ihn wieder in den Dienst zu stellen und hatte ihn für seine erste Destination als Legationsleiter drei Städte vorgeschlagen. Nun rief er an, um sich mit meiner Mutter darüber zu beraten.

Ich war gerade im Garten mit Spielen beschäftigt, als sie mich zum Telefon rief und mich fragte: "Dove vuoi andare: al Cairo, a Francoforte sul Meno o a Vienna?" " Wo willst Du hin: nach Kairo, nach Frankfurt am Main oder nach Wien?" Ich dachte keine Sekunde nach, auch weil ich wieder in den Garten laufen wollte, und sagte, obwohl ich mir unter keiner der genannten Städte irgendetwas vorstellen konnte: "A Vienna!". Ich wusste nicht, dass ich in diesem Augenblick mein weiteres Leben, bis zum heutigen Tag, bestimmen würde.

Carla Stanek für WGMSG, 24.11.2005

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