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Elfriede Haslehner

Im Bunker / ca. 1945

Im Krieg.

Ich verbringe die erste Nacht meines Lebens in einem Bunker. Ich bin noch nicht zwölf. Der Bunker gehört zu der Fabrik in der mein Vater angestellt ist. Er ist der Leiter der Weberei. In der Fabrik wird Seide hergestellt, in den Kriegsjahren vor allem Fallschirmseide. Außer mir sind meine Eltern, meine Großmutter, mein jüngerer Bruder und diejenigen deutschen Angestellten im Bunker, die nicht geflohen sind. Die tschechischen Arbeiter brauchen die anrückenden Russen nicht zu fürchten. Keiner von ihnen ist im Bunker.

Die Nacht verläuft ruhig. Wir haben Pritschen, Matratzen und grobe braune Decken zur Verfügung. Wir schlafen einige Stunden. Am frühen Morgen weckt uns lautes Krachen, eine Granate hat oben eingeschlagen. Weitere Einschläge folgen, sie gelten wohl der Fabrik. Sind es Bomben oder Granaten? Ich kenne den Unterschied nur von der Wochenschau. Wir sind den ganzen Krieg hindurch von Bombenangriffen verschont geblieben.

Über eine Stunde dauert der Beschuss nun schon. Die Erschütterungen des Bodens setzen sich bis in unseren Bunker fort. Wir sitzen stumm und haben Angst. Wie sieht es oben aus? Ist der Eingang in den Bunker noch frei? Sind wir bereits verschüttet? Wie, wenn eine Granate den Bunker trifft? Wie stark ist dessen Dach? Wie stark sind die Granaten? Das Krachen dauert an, der Bunker bleibt unversehrt.

Die Fabrik muss schon ganz zerschossen sein, denke ich, das Bürohaus mit dem Arbeitszimmer des Vaters liegt nun in Trümmern und ich beginne bei diesem Gedanken zu weinen. Das sinnlose Zerstören, das ich den ganzen Krieg hindurch nur in der Wochenschau im Kino gesehen habe, ist jetzt ganz nahe gerückt.

Näher, immer näher gerückt war es schon seit Monaten. Vor kurzem, bei einem Ausflug, Vorfrühlingsausflug, die Sonne schon warm, der Rasen noch braun, wir sind mit dem Vater einen Waldrand entlang gewandert, da haben wir es zum ersten Mal gehört - dumpf und bedrohlich nahe - das Dröhnen der Geschütze. Artillerie! Hat der Vater gesagt, der schon am ersten Weltkrieg teilgenommen hatte. Seither das ferne Dröhnen auch in den Nächten - und die Angst.

Habe ich aus Angst geweint? Die Gedanken an die zerstörte Fabrik nur vorgeschoben? Ich schäme mich, ich bin die einzige, die weint. Die Angst vor einem schrecklichen Ende des Krieges, vor einer "Niederlage", habe ich lange Zeit zu unterdrücken versucht. In der Schule, in der Hitlerjugend haben sie uns beigebracht, an das schöne, große Deutsche Reich, an eine herrliche, siegreiche Zukunft zu glauben. Die Lieder die wir lernen mussten, habe ich begeistert mitgesungen: "Jetzt ist für uns eine Zeit angekommen, die bringt uns gro-o-o-oße Freud". "Wir werden weiter marschieren, bis alles in Scherben fällt", oder " Ein junges Volk steht auf, zum Sturm bereit".

Ich bin mitmarschiert wenn die Hitlerjugend, die SA und all die anderen Organisationen durch das Städtchen (Zabreh, ehemals Hohenstadt, Nordmähren) marschiert sind, und habe mich dabei den tschechischen Kindern, die scheu am Straßenrand gestanden sind, überlegen gefühlt. Die Eltern haben mich gewähren lassen, sie haben wohl müssen, haben mich aber nicht unterstützt; so habe ich keine "richtige" Uniform für meine Auftritte als Jungmädel bekommen, habe mich mit meinem Faltenrock - statt des vorgeschriebenen blauen - und mit meiner dunkelbraunen Schi-Jacke, statt der hellbraunen Uniformjacke zufrieden geben müssen. Der Vater hat mich manchmal geneckt wenn ich in die Heimstunde, den "Dienst", wie man es nannte, gegangen bin, hat gefragt, was wir denn dort "dünsten".

Es hat mich gekränkt, dass er mich, uns, nicht ernst genommen hat. Dann ist einmal der erschreckende Gedanke in mir aufgestiegen: Der Vater glaubt nicht an den Endsieg! Ich habe ihn zunächst gar nicht zu denken gewagt, er hat mich aber nicht losgelassen, hat den nächsten Gedanken nach sich gezogen: Wie, wenn der Vater recht hätte? Das ist der Beginn der Angst gewesen.

Jetzt, beim Dröhnen der Granaten ist die Gewissheit da. Was oben endgültig in Trümmer geht, ist nicht nur die Fabrik, es ist meine Welt, das, woran ich geglaubt habe, die Ideale, Vorstellungen vom Leben, von der Zukunft.

Es ist nicht plötzlich gekommen. Auch wir Kinder haben die Nachrichten von den ständigen Rückzügen, von den verheerenden Bombenangriffen, den Bombardierungen Wiens, der Heimatstadt der Mutter, gehört, haben mit den Erwachsenen geweint, als wir - über "Feindsender" - erfahren haben, dass der Stephansdom ausgebrannt ist. Wir haben den ganzen Winter hindurch Flüchtlingsströme durch das Städtchen ziehen gesehen - armselige Bauernwagen, von mageren Pferden oder Ochsen gezogen, mit Planen bedeckt oder offen, auf denen neben Hausrat und Bündeln mit Habseligkeiten die Menschen gehockt sind. Frierende Kinder, Frauen mit Kopftüchern, alte Leute; manche der Männer und Frauen stapften neben den Wagen durch den braunen Schneematsch des späten Winters.

Wir haben unsere Schule, die Oberschule, den Flüchtenden als Nachtlager abtreten müssen, gern abgetreten - nun brauchten wir nicht mehr zu lernen - und unser Schulchor hat einmal versucht, die auf Stroh gelagerten Flüchtlinge mit Liedern zu erfreuen "Es ist für uns eine Zeit angekommen...." Es ist uns nicht gelungen, die Elenden aufzuheitern, ratlos sind wir den heimatlos gewordenen gegenüber gestanden, haben den Versuch nicht wiederholt.

Sie sind weiter gezogen, immer nach Westen, der Frühling ist gekommen, ein heller, schöner Frühling. Wir Kinder haben viel Freizeit gehabt, haben sie meist in dem großen Garten rund um das Haus, in dem wir wohnten, verbracht. Die Spiele sind nun andere gewesen als noch vor einem Jahr. Die Lust Krieg zu spielen war uns vergangen. Wir haben uns in Höhlen aus alten Möbeln und Holzstücken versteckt, heimlich Feuer hinter dem Schuppen gemacht und uns ein Baumhaus gebaut. Es hat keinen "Dienst" und keine Aufmärsche mehr gegeben.

Als der Führer "gefallen" war, hat ihm niemand von unserer Familie eine Träne nachgeweint. Dann ist der 7. Mai gekommen, die Russen sind vor der Stadtgrenze gestanden, der Kommandant der deutschen Garnison hat dem Vater versichert, er werde sich ohne Kampf zurück- ziehen. Er hat uns trotzdem geraten, die Nacht im Bunker zu verbringen. War er es, der vor seinem Abzug die Stadt, die Fabrik beschießen ließ?

Die Einschläge haben aufgehört. Es ist ganz still. Wir warten. Lange Zeit geschieht nichts. Endlich geht die Bunkertür auf, helles Licht fällt von oben herein, zwei tschechische Arbeiter - sie tragen Gewehre und rote Armbinden - treten ein, sprechen einige Worte, jemand der tschechisch versteht, übersetzt. Der Krieg ist zu Ende, die Kapitulation sei bereits erfolgt, die Russen hätten die Stadt genommen; wir mögen uns ruhig verhalten. Sie gehen wieder. Wir dürfen noch nicht nach oben, sitzen wieder im Dunklen. Oben ist es hell, ein heller, sonniger Maimorgen, der Morgen des 8. Mai 1945.

Erst am Nachmittag dürfen wir den Bunker verlassen. Wir nehmen unser Handgepäck, steigen hinauf in die Helle. Wir stehen auf dem staubigen Platz vor der Fabrik. Russische Soldaten mit Gewehren und tschechische Arbeiter mit roten Armbinden stehen herum. Die Fabrik ist kaum beschädigt, es sind nur leichte Granaten gewesen. Wir werden angewiesen, das Gelände zu verlassen. Langsam gehen wir in den hellen Nachmittag, in eine veränderte Welt, eine ungewisse Zukunft hinein.

(Geschrieben 1985)

Elfriede Haslehner für WGMSG, 11.12.2005

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