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Elfriede Haslehner

Heimkehr / 1945

Kriegsende

Beinahe alles, was ich vom ersten Teil unserer Reise, unserer Flucht von Norden nach Süden weiß, habe ich von meiner Mutter erfahren. Ein einziges Bild ist mir geblieben: Ein Bahnhof, Bahnsteig - später erfahre ich von der Mutter, dass es der Bahnhof von Pressburg war - wir warten auf Gepäckstücken sitzend, auf die Weiterfahrt. Wir, das sind die Mutter, die Großmutter, der jüngere Bruder und ich.

Der Vater ist nicht mitgekommen, hat nicht nach Österreich ausreisen dürfen, er wäre ohne die Bemühungen der Mutter, einer gebürtigen Wienerin, so wie alle Sudetendeutschen nach Deutschland ausgewiesen worden, ohne mehr als sein Handgepäck mitnehmen zu können. Er ist in Hohenstadt in einem Notquartier geblieben, musste Zwangsarbeit leisten, wartete, bis die Mutter für die ganze Familie die Österreichische Staatsbürgerschaft erlangt haben würde.

Es ist der erste August 1945, seit Kriegsende sind drei Monate vergangen, wir fahren - es verkehren schon einige Züge - von Nordmähren nach Österreich, in die Heimat der Mutter. Erstes Ziel: Wien und die kleine Wohnung der Großmutter. Irgendwo nördlich von Wien, in flachem, unverbautem Gebiet ist die Bahnfahrt zu Ende. Später erfahre ich, dass es in Leopoldau gewesen ist.

Ein glücklicher Zufall, ein Pferdefuhrwerk bringt uns und das Gepäck nach Ottakring, dort werden die schwereren Stücke eingelagert und wir gehen zu Fuß weiter. Von diesem Fußmarsch ein einziges Bild: Die Stadtbahnbrücke, die sich in hohem Bogen über Wienfluss und Gürtel spannt. Dort muss es gewesen sein, wo wir Meidlinger Boden betreten haben.

In der Zimmer-Küche Wohnung der Großmutter - schon für vier Leute zu eng - ist eine Frau einquartiert, deren Wohnung zerbombt worden ist. Sie schläft noch einige Nächte in unserer Küche - wir zu dritt in den Ehebetten, der Bruder auf dem Diwan - dann zieht sie in eine Wohnung im selben Haus, in der ein Blindgänger ein riesiges Loch durch Zimmerdecke und Boden geschlagen hat, die Küche ist bewohnbar geblieben. In unserer Küche sind die Kacheln um den Herd locker, im Zimmer sind alle Fensterscheiben kaputt und durch Holz und Pappe ersetzt. Später werden einige Fensterflügel mit den Glastafeln aus den großen Familienbildern verglast.

Einige Wochen müssen wir uns durchhungern. Wir haben nur die Lebensmittelkarte der Großmutter zur Verfügung. In ihrem Wäschekasten hat sie eine Schachtel Würfelzucker, etwas Mehl und einige Gläser mit eingetrockneter Marmelade versteckt, die noch vorhanden sind. Als unser Hunger immer stärker wird, geht die Mutter zweimal zu Fuß über den Wienerberg bis nach Himberg, wo sie Erdäpfel und etwas Gemüse gegen Sacharin eintauschen kann und auf den abgeernteten Feldern Ähren aufliest. Wir mahlen die Körner mit der Kaffeemühle, die Großmutter kocht mit dem entstandenen "Mehl" auf dem Sparherd "Hausfreund" genannt, einer großen Konservendose, in der mit Holzstückchen geheizt wird.

Es gibt noch lange kein Gas. Die Mutter macht Behördenwege, geht zu Fuß in die Stadt, von Amt zu Amt und zu den Besatzungsbehörden, um für uns die Staatsbürgerschaft zu erlangen. Nicht nur die Erlaubnis, auch die Möglichkeit, in die Steiermark weiter zu fahren hängt von Russen und Engländern ab. Wir haben erfahren, dass das alte Bauernhaus der Urgroßmutter noch steht und hoffen, dort, in der Oststeiermark, weniger hungern zu müssen.

Elfriede Haslehner für WGMSG, 11.12.2005

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