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192 persönliche Erinnerungen gefunden

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PERSÖNLICHE ERINNERUNG:
  • AutorIn: Otto Tausig
  • Geburtsdatum: 13.2.1922
  • Wohnort: Döbling, Wien
  • Land: Österreich
  • Erstpublikation:
    Mandelbaum Verlag, März 2005
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Otto Tausig

"Kasperl, Kummerl, Jud". 05 / ca. 1940

Aus dem Kapitel: "Enemy aliens"

Wir, die in Oxford lebenden "feindlichen Ausländer", darunter Professoren und namhafte Intellektuelle, die vor Hitler geflohen waren, mussten uns in einem großen Saal versammeln und wurden nun namentlich aufgerufen. Cassirer!, brüllte der rotgesichtige Sergeant Major. Neben mir stand ein kleiner, schmaler Kerl und sagte kaum hörbar: Hier. - Noch einmal wurde er aufgerufen, noch lauter als zuvor, und wieder piepste es neben mir: Hier. -

Hier ist er, rief ich laut und der Sergeant Major ging zum Buchstaben D über. So lernte ich Bruno Cassirer kennen, einen Kunstwissenschaftler und Abkömmling der berühmten Cassirer-Verlagsdynastie. Der stand da, mit einem riesigen Buch unter dem Arm, gegen das ein Band des Brockhaus wie ein Taschenbuch wirkte. Es war eine ägyptische Sprachlehre. Er öffnete sie und zeigte mir das Bild der Nofretete: Ist sie nicht süß?, flüsterte er verklärt.

Ich nahm ihn unter meine Fittiche, denn er war noch viel lebensunfähiger, als ich damals war. Der Bursche lebte im alten Ägypten. Und was jetzt kam, war nicht gerade eine wohl geordnete bürgerliche Existenz. Zunächst wurden wir nach Warth Mills gebracht. Das war kein richtiges Internierungslager, sondern eine in aller Eile mit einem Stacheldraht umgebene aufgelassene Fabrik. Eine riesige Halle mit einem rissigen Betonboden, auf dem wir schliefen, über unseren Köpfen mächtige rostige Räder, die einst der Textilproduktion gedient hatten.

Die Möblierung war dürftig. Ein Haufen Pferdedecken, von denen man sich eine nehmen durfte, und einige Blecheimer für die Notdurft. Das war es. Bis auf das Blechbesteck und den Blechnapf, den jeder bekam. Zwischen der Außenmauer der Fabrik und dem Stacheldraht gab es einen Wasserhahn mit kaltem Wasser. An dem sollte man sich im Freien waschen, rasieren, Zähne putzen und das "Geschirr" spülen. Wir waren 1.200 Leute und meine Erinnerung muss mich wohl täuschen, dass es da nur diesen einen Wasserhahn gab, aber dass da ständig eine lange, verzweifelte Menschenschlange angestellt war, weiß ich sicher.

Besonders nach der ersten Nacht, als wir zum Frühstück süßes Porridge bekamen. Das wäre sicher köstlich gewesen, hätte es nicht noch nach dem Salzhering geschmeckt, den wir am Abend vorher als Nachtmahl erhalten hatten. Wie hätte man den Geschmack auch, mit etwas Erde als einzigem Spülmittel, aus dem Blechnapf entfernen können?

© Mandelbaum Verlag 2005.

Otto Tausig für WGMSG, 30.1.2006

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