(Geschichtlicher Hintergrund: Nach der Niederlage Frankreichs gegen Nazideutschland wurden in England alle männlichen Emigranten aus Österreich, Deutschland und Italien als "feindliche Ausländer", so genannte "enemy aliens" in Lagern interniert, weil die Engländer fürchteten, dass sich diese Emigranten als "fünfte Kolonne" Hitlers entpuppen könnten. Das größte dieser Lager befand sich auf der Isle of Man.)
Eines Tages ging ich durch das Lager und sah einen Mann auf einem Stein stehen, der lauthals brüllte: Wir weben, wir weben! - Ein Verrückter? Keineswegs - es war ein Kommunist, der mit großer Leidenschaft das Heine-Gedicht "Die Weber" rezitierte. Leute sammelten sich um ihn, hörten zu. Der Zweck seiner Darbietung war aber, mit diesem antikapitalistischen Gedicht zu zeigen: "Hallo, Genossen, von denen ich nicht weiß, wo ihr seid, wer ihr seid, ich bin einer von euch. Lasst uns Kontakt aufnehmen und mit kulturellen Aktivitäten Menschen für unsere Sache gewinnen." So begann die kulturelle Tätigkeit der Kommunisten im Internierungslager, an der ich später teilnehmen sollte.
Zunächst aber wurde das Lager Prees Heath aufgelöst und wir wurden nach Douglas auf der Isle of Man verlegt. Im Vergleich mit den anderen Lagern war es wie eine Rückkehr in die Zivilisation. Wir bezogen richtige kleine Häuser, frühere boardinghouses, Pensionen, die in einem Rechteck eine schöne große Rasenfläche umgaben. Wir schliefen in richtigen Betten, hatten Küchen, in denen wir unsere zugeteilten Rationen selbst zubereiteten, und waren weitgehend uns selbst überlassen. So organisierten wir eine Vielfalt von Aktivitäten, die das Leben hinter dem Stacheldraht einigermaßen erträglich machten.
Da die Isle of Man dank des nahen Golfstroms ein sehr günstiges Klima hat, konnte man nun bis in den Herbst hinein im Freien sitzen. So wurde die Rasenfläche im Zentrum des Lagers zum Auditorium Maximum unserer Lageruniversität. Im Türkensitz auf dem Gras sitzend lauschten die Hörer verschiedenen Sprachkursen, Vorträgen über Chemie, Kunstgeschichte, Literatur, Nationalökonomie, die Philosophie des Wiener Kreises etc. etc.
Mit Lehrkräften waren wir bestens versorgt, denn in Oxford waren ja eine Reihe bedeutender Denker aller Sparten zu uns gekommen. Natürlich gab es auch Gottesdienste, literarische Abende, wenn z.B. Kurt Schwitters aus seinen Werken vortrug, es gab eine Bibliothek, eine Dusche, eine Flickschneiderei, einen Flickschuster und ein Theater, wo ich bald zum Star wurde, vor allem für weibliche Rollen.
In "Nathan der Weise" war ich die Daja und hatte großen Erfolg als vornehme Lady Barthwick in Galsworthys "Silverbox". Starke Publikumsreaktionen rief es hervor, wenn ich mir, wie das feine Damen gerne tun, die Frisur richtete, weil dann eine Mehlwolke hochstob. Mangels einer Perücke musste ich die Haare der alten Dame mit Hilfe von Mehl weiß färben. Natürlich spielte ich nicht nur Frauenrollen, sondern auch andere, einmal sogar einen Professor mit mächtigem Vollbart.
Dabei ergab es sich günstig, daß ich nicht nur als Schauspieler, sondern auch als Flickschuster tätig war. Diesen Beruf hatte ich im Lager erlernt und empfand ihn als echt befriedigend. Die Nägel zwischen den Zähnen haltend nagelte man die neuen Sohlen aus schönem hellbraunen Leder auf die alten Treter. Wenn man am Abend heimging, tat man das mit dem Gefühl, etwas Brauchbares geleistet zu haben.
Die Gummisohlen wiederum wurden nicht genagelt, sondern mit einem starken Leim angeklebt. Von diesem nahm ich etwas für unsere Theatergruppe mit, um damit die Bärte zu kleben. Die hielten wirklich eisern. Nur en suite konnte man nicht spielen. Beim Herunterreißen des Bartes wurde die Gesichtshaut arg in Mitleidenschaft gezogen und man musste eine Zeit lang warten, bis man wieder in der Lage war, sich einen Bart anzukleben.
© Mandelbaum Verlag 2005.
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