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Vladimir Vertlib

Rendezvous mit der Stadtbahn / 1978

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Wien, Herbst 1978, Stadtbahnhaltestelle Friedensbrücke. Die Garnitur der Linie G (heute fahren auf dieser Strecke die U-Bahnlinien U6 und U4) ist abfahrbereit. Davor steht ein etwas dicklicher Zwölfjähriger, der eine braune Weste und eine noch hässlichere braune Brille trägt. Auch wenn man das ästhetische Empfinden der Siebzigerjahre berücksichtigt, müsste man sein Outfit als etwas schäbig bezeichnen.

Die Eltern interessiert es nicht, ob die Kleidung ihres Sohnes schön wirkt oder nicht. Sie sind Immigranten und haben andere Sorgen. Was sie ihrem Kind vermitteln möchten, sind wesentlichere Dinge: ethische Grundsätze, eine gute Bildung, Konsequenz und Ausdauer. Ein Jude müsse doppelt so gut sein wie ein Goj, um im Leben Erfolg zu haben, sagen sie.

Es amüsiert die Eltern, dass ihr Sohn jeden Sonntag ein "Rendezvous mit der Stadtbahn" hat. Stundenlang fährt er kreuz und quer durch Wien. Zuhause zeichnet er Tunnel, Bahnsteige und Stadtpläne. Er wird vielleicht Ingenieur, denken die Eltern und schicken ihn ins Realgymnasium. Eine Fehlentscheidung, wie sich später herausstellen wird...

Seit unserer Ausreise aus Russland im Jahre 1971 hatten meine Eltern und ich an mehreren Orten gelebt. Österreich sei kein Land, in dem sich Juden eine neue Heimat schaffen sollten, meinte mein Vater. Doch nach zahlreichen gescheiterten Emigrationsversuchen waren wir trotzdem wieder einmal in Wien gelandet.

Ich hatte keine Freunde, ich wurde von meinen Mitschülern verprügelt und hatte Angst, zurückzuschlagen. Abschätzigen Bemerkungen über Russen, Juden und "sonstige Ausländer" begegnete ich mit Schweigen. Ich müsse lernen, mich durchzusetzen, erklärte meine Mutter. Antisemiten verstünden nur die Sprache von Fäusten, sagte mein Vater. Aber ich war kein Held. Andere Emigrantenkinder haben es leichter, dachte ich. Sie sind mutig, und sie vergessen schneller.

Ich wollte ein richtiger Mann sein und übte stundenlang vor dem Spiegel den "stahlharten Blick". Das Ergebnis war ernüchternd. Die Unmengen von Pralinen und Marmeladebrote, die ich damals verschlang, trugen ebenfalls nicht dazu bei, "hart" auszusehen.

Eines hatte ich jedoch meinen Mitschülern, Lehrern oder Nachbarn voraus: ich, der Zuwanderer, kannte ihre Stadt viel besser als sie selbst. Ein Durchschnittswiener findet sich meist nur in seinem Heimatbezirk und in der Innenstadt zurecht. Für einen Leopoldstädter liegt Hernals irgendwo zwischen Dänemark und den Britischen Inseln und Liesing nahe der Libyschen Wüste. Ich hingegen hatte alle Schnell- und Stadtbahnstationen besichtigt und jedes Viertel aufgesucht, das mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar war. In meiner Phantasie durchschritt ich die Halle des im Krieg zerstörten Nordbahnhofs, den ich von alten Photographien kannte. Ich wusste, dass die Brigittenau im 19. Jahrhundert zur Leopoldstadt gehört hatte und dass Simmering bis 1955 Teil der britischen Besatzungszone gewesen war. Nur von der jüdischen Geschichte Wiens wußte ich wenig. Die Bücher über Wien, die ich in der Kinderabteilung einer Zweigstelle der Städtischen Büchereien auslieh, berichteten nichts darüber, und die Bibliothekarinnen sahen es nicht gern, wenn ich mich in der Erwachsenenabteilung "herumtrieb".

Vladimir Vertlib, geboren 1966 in Leningrad, 1971 Emigration der Familie nach Israel, 1972 Übersiedlung nach Wien, 1975 in die Niederlande, erneut nach Israel, Rom, Wien, in die USA und 1981 endgültig nach Österreich. Volkswirtschaftsstudium in Wien. Seit 1993 Schriftsteller und Journalist in Salzburg. Veröffentlichte u.a. die Erzählung »Abschiebung« und die Romane »Zwischenstationen«, »Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur« und »Letzter Wunsch».

Eine von 43 Geschichten aus dem Buch "So einfach war das."
© Jüdisches Museum Hohenems.

Vladimir Vertlib für WGMSG, 17.3.2006

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