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PERSÖNLICHE ERINNERUNG:
  • AutorIn: Evelina Merhaut-Gurevitsch
  • Geburtsjahr: 1962
  • Wohnort: Wien
  • Land: Österreich
  • Erstpublikation:
    Jüdisches Museum Hohenems, Februar 2004
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Evelina Merhaut-Gurevitsch

Die Emigration verschaffte mir Bewegungsfreiheiten innerhalb der Familie / 1970 - 1979

Bild zur persönlichen Erinnerung
Evelina Merhaut-Gurevitsch und ihr Vater vor dem Hitler-Bunker in Wien.

Geboren wurde ich in Vilnius im heutigen Litauen, damals noch Sowjetunion. 1971 emigrierten meine Eltern mit mir und meiner Großmutter Ethel zunächst nach Israel und anschließend nach Wien. Meine Großmutter starb - leider viel zu jung - noch in Jerusalem.

Ich kam hier an als Fremde, ohne Sprachkenntnisse, ohne Freunde und vor allem ohne weitere Familie, ein Kind mit zwei Muttersprachen, Russisch und Hebräisch. Der Wechsel nach Österreich war eng verbunden mit Einsamkeit, Ausschließung aus dem gesellschaftlichen Leben und jeglicher Kommunikation mit österreichischen Kindern. Die Eltern mussten ihre gesamte Energie in einen weiteren Neubeginn investieren, und so blieb ich die meiste Zeit mir selbst überlassen. Dieser Umstand machte mich rasch selbstständig und verschaffte mir große Bewegungsfreiheiten innerhalb der Familie. Ich lernte viel schneller als meine Eltern mit der neuen Situation umzugehen und nutzte meinen Vorteil nach Lust und Laune auch aus.

Die Familie meiner Mutter wurde während der Zeit des Nationalsozialismus in Polen erniedrigt, beraubt und bis auf drei Menschen ermordet. Die grausamen Geschichten aus der Vergangenheit waren die Begleiter meiner Kindheit und Jugend, wie eine nicht in Worte zu fassende Schwere beeinträchtigten sie das Leben. Der Wunsch, diesem Zustand zu entfliehen und die gleichzeitige Unmöglichkeit und Aussichtslosigkeit, das tun zu können, zeichneten den Widerspruch, der sich im Alltag fortsetzte und mein Leben als Kind und Jugendliche bestimmte.

Ein Jahr nach unserer Ankunft in Wien trat ich in die jüdische Jugendbewegung "Haschomer Hazair" ein. Damals gab es außer mir fast keine russischsprachigen Mitglieder. Ab diesem Moment hat sich jedoch mein Dasein in Österreich total verändert. Die intensive Bindung an Israel, das Judentum und die Stärke der jüdischen Gruppe hoben die Leere und das Unverständnis meiner österreichischen Umgebung auf. Die Jugendbewegung wurde ein zweites Zuhause, ein Ersatz für die vernichtete Großfamilie. Wir trafen uns regelmäßig, fuhren gemeinsam weg, diskutierten viel über Politik, verglichen Österreich mit Israel und machten abends einfach Wien unsicher. Die Freundschaften von damals haben sich bis heute bewährt.

Parallel dazu blieb ich innerhalb meiner Schulklasse weiterhin eine eingereiste Ausländerin, eine Jüdin mit fremdartigen Feiertagen, für die Weihnachten keinen Stellenwert hatte und die nie als Wienerin angesehen wurde. In einer höheren Klasse gab es einen jüdischen Jungen, der mich in seine Schulclique integrierte. Plötzlich fielen die Barrieren, und mein Leben veränderte sich wieder.

Im "Schomer" fühlte ich mich weiterhin geborgen und aufgehoben. Warum lebe ich, eine Jüdin, in Österreich, in einem Land, aus dem so viel Gewalt gegen meine Familie, mein Volk ausging? - Solche Fragen blieben zwar ohne Antwort, haben jedoch mit den Jahren an Gewicht verloren.

Diese Widersprüche und Gegensätze haben die wichtigsten Jahre meines Erwachsenwerdens stark geprägt. Später, während meines Studiums an der Universität Wien, wandelte sich das Leben von einem jüdischen in ein mehr europäisches. Die Bindung an Israel wurde schwächer, und ich passte mich immer mehr an den Wiener Rhythmus an. Meinen Eltern hingegen ist dieses nie gelungen.

Wien war der Inbegriff Österreichs. Nur in der Großstadt konnte ich mich frei bewegen und entfalten. Die Anonymität war eine wichtige Voraussetzung, so zu sein, wie ich wollte.

Mein Aussehen, meine Sprache und meine Art zu denken hat oft zu Zusammenstössen mit den "österreichischen" Wienern geführt. Nicht selten werde ich bis heute als Fremde erkannt und "nach Hause" geschickt. Diese positiven und negativen Erfahrungen meiner Jugend haben in mir die Identitätsfrage, die sich alle Jugendlichen stellen, sehr gefestigt. Sowohl in der Sowjetunion als auch in Österreich war es die Umgebung, die mir immer vermittelte, dass ich als Jüdin Geborene nicht ganz dazugehören kann, sondern stets als eine "Andere" leben werde.

Trotzdem liebe ich Österreich und möchte heute in keinem anderen Land Europas leben müssen.

Evelina Merhaut-Gurevitsch, geboren 1962 in Vilnius in der damaligen Sowjetunion. 1971 Emigration nach Israel, 1973 Emigration nach Österreich. Studium der Geschichte und Publizistik in Wien. Leitet die Projektförderungsstelle im "Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus". Verheiratet, zwei Kinder.

Eine von 43 Geschichten aus dem Buch "So einfach war das."
© Jüdisches Museum Hohenems.

Evelina Merhaut-Gurevitsch für WGMSG, 16.3.2006

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