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PERSÖNLICHE ERINNERUNG:
  • AutorIn: Doron Rabinovici
  • Geburtsjahr: 1961
  • Wohnort: Wien
  • Land: Österreich
  • Erstpublikation:
    Jüdisches Museum Hohenems, Februar 2004
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Doron Rabinovici

Mischmasch und Melange / 1960 - 1969

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Es ist ein Klassenphoto aus dem Jahre neunzehnhundertsechsundsiebzig. Ich bin, besser gesagt, war nicht der Junge, der in Lederhose vor dem Bleistiftspitzer stand. In diese Alpentracht hätte mich meine Mutter, der Vernichtung entronnen, nie gesteckt. Ich war auch nicht das Dickerchen, dem meine geliebte Volksschullehrerin eine Frage stellte und der, wie zu sehen ist, recht scheu auf das Buch vor ihr blickt. Ich weiß, dass mir bereits am ersten Tag im Kindergarten alle österreichischen Altersgenossen ein wenig zu feist, brav und unbeweglich schienen. Sie kamen mir irgendwie vor wie Semmelknödel; kugelig weiße, bamstig mehlige Gestalten.

An unserem ersten Tag in Wien waren wir, mein Bruder und ich, sogleich aus dem Haus gelaufen. Ohne unseren Eltern zu glauben und ihren Warnungen. Wir hatten zu Spielkameraden gewollt, denn so waren es die zwei israelischen Buben gewohnt gewesen. In Tel Aviv konnten wir mit unseren Freunden draußen vor der Tür herumtollen und im Hof die Katzen aufscheuchen. Doch in der Taubstummengasse und auf der Favoritenstraße der sechziger Jahre waren wir beide dagestanden, stumm und ratlos; kein Gleichaltriger weit und breit, sondern bloß Erwachsene, zuweilen mit Hunden an der Leine. Autos donnerten an uns vorbei.

Die Wohnung hatte mich begeistert. Die Räume ragten höher empor, als ich, der kleine Sabre, es je gesehen hatte. Der Gang hinaus schien mir unheimlich lang und lange unheimlich. Wer hier seine Bleibe verlassen wollte, musste über lange Korridore gehen, an Mezzanin und Parterre vorbei, Schwingtüre aufdrücken, um dann an Portale zu geraten, die selbst die Großen nicht bewegen konnten. Um den Haustoren Wiens entschlüpfen zu können, waren ins Holz Pforten eingeschnitten worden. Wollte einer sie öffnen, brauchte es einen Schlüssel.

Ich war kein Jude in Österreich, vielmehr wurde ich zum vorwitzigen Makkabäer in der Donaustadt und zum Jekke in Tel Aviv, zum Südländer unter Älplern und zum Wiener Musterknaben auf Besuch im orientalischen Geburtsland, der mit seinem "Bitteschön" und "Dankeschön", mit "toda raba" und "bewakascha" die Verwandten befremdete und entzückte. Im nächsten Jahr, allenfalls im übernächsten, so glaubten meine Eltern, würden wir zurückkehren nach Israel; sie versprachen es einander. Diese Absicht wurde wiederholt, sooft sich die Abfahrt verschob, im nächsten und im übernächsten Jahr.

Ich bin der Junge vom Betrachter aus gesehen ganz rechts. Wir waren eine reine Bubenklasse, und nur ich fand diese Aufteilung verstockt altmodisch, altbacken österreichisch, und spielte sehr gerne mit den Mädchen im Nachbarraum. Der Kerl auf dem Bild, der ich war, ist den anderen irgendwie abgewandt, und bloß über die Schulter schaut er zur Lehrerin.

Hinter ihr steht der Kasten mit allen Buchstaben; der Schrein der Taferlklassler, eine Zauberkiste. Vor meinem dritten Lebensjahr war ich nach Österreich gekommen. In der fremden Stadt verstand mich keiner. Ein Junge lief mit seiner Mutter durch Wien und beschimpfte irgendwelche Männer auf Hebräisch: "Du Esel, ich bin so klein und kann bereits sprechen, und Du bist so groß und verstehst mich nicht." So schnell wie möglich wollte der Bub Deutsch reden, wollte es besser als die Einheimischen reden.

Ich nutzte die Sprache, und nicht sosehr, was ich erklärte, vielmehr wer ich war, ließ viele meiner Worte zum Widerspruch gegen das Schweigen werden, das im Österreich der sechziger Jahre vorherrschte. Zum Stillhalten hatten die ostjüdischen Überlebenden ihren israelischen Sohn nicht erzogen. Ich sollte das Fremde mir aneignen, ohne mich dem Eigenen zu entfremden. Mein Name war ein Schild. Kaum hatte ich ihn genannt, war für zwei Stunden Gesprächsstoff gesorgt.

Aus der beidseitigen Not der Unzugehörigkeit machte ich eine zweifache Tugend. Ich lernte, wovon israelische Kinder nichts wussten, und kannte eine Welt, von der die Wiener Schulkameraden nichts ahnten. Der Bub, der ich war, fand sich in der Rolle des Mischmasch. Ich war ein Wechselbalg verschiedener Länder und Kontinente, wurde dabei zum Überbleibsel jahrhundertealter Heimatlosigkeit und zum Mitbringsel neuer Migration.

Doron Rabinovici, geboren 1961 in Tel Aviv, Schriftsteller, Essayist und Historiker, lebt seit 1964 in Wien, veröffentlichte unter anderem die Bücher »Papirnik. Stories«, »Suche nach M. Roman in zwölf Episoden«, »Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938-1945«, »Credo und Credit. Einmischungen«, und im Jahr 2004 den Roman »Ohnehin.«

Eine von 43 Geschichten aus dem Buch "So einfach war das."
© Jüdisches Museum Hohenems.

Doron Rabinovici für WGMSG, 16.3.2006

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