Ich lebe allein, mit 17 Jahren, in einer eigenen Wohnung. Am Anfang verbringe ich viel Zeit damit, meine nie in Frage gestellte Freiheit zu genießen. Ich wohne schon fast in der Schwulenbar, bleibe bis um 4 Uhr früh, gehe zu Fuß nach Hause, mit einer Bierflasche in der Hand, neben mir Sylvia, ein kleines, dunkles, zerschütteltes Etwas, das so wie ich sucht, ohne zu wissen, was. Ich schlafe kaum, arbeite tagsüber, gehe abends zur Schule. Meine Leistungen entsprechen meinem Schlafdefizit. Ich bin blaß, müde, esse immer das gleiche, wohne in der Badewanne, lasse warmes Wasser nachrinnen, wenn das andere kalt ist und komme so durch.
Helene besuche ich hin und wieder. Sie weiß wenig von mir. Das ist mir auch recht so. Ich lerne Leute kennen, Typen aus der Unterwelt, fürchte mich nicht, wundere mich manchmal, daß ich mich nicht fürchte.
Rudolf ist fort, aber seine Freunde bleiben bei mir. Ich lebe zeitweise mit drei oder vier jungen Männern zusammen, die nichts von meinem anderen Leben in der Schwulenbar wissen. Wir spielen Karten, trinken, sie erzählen mir ihre Probleme mit Mädchen. Ich gehöre zu ihnen, sonst nichts. Am Samstag machen wir Mopedtouren, Eierspeise für sechs Personen und spielen Messerwerfen. Gottfried, der Älteste in der Gruppe, ist mein Wärmeofen. Nachts schläft er oft in meinem Bett, streng im Gymnastikanzug, leiht mir seine Schulter zum Einschlafen, umarmt mich, um mich zu halten, küßt mich nie und behandelt mich ehrfurchtsvoll.
Aus dem Buch: "Laufen ohne stehenbleiben. Bericht eines An-Kindes-Statt-Kindes" von Birgit Meinhard-Schiebel. Publikation: 1985, Wiener Frauenverlag.
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