Meinen Eltern war klar, daß wir hier weg mussten. Verzweifelt suchten sie ein Land, in das man emigrieren konnte, wo man Juden leben ließ. Bulawayo in Süd-Rhodesien schien eine Möglichkeit. Für mich war das unbegreiflich. Afrika? Was sollen wir denn dort? Gibt es denn dort Konzerte? Ein Theater?
Und dann gab es natürlich noch Palästina. Das war in jüdischen Kreisen immer schon im Gespräch gewesen. Der Antisemitismus war ja in Wien nichts Neues. Schon in der Volksschule hatte es da zwei "Platten" gegeben, die kleinere Bande der Judenbuben und die große unter der Führung eines gewissen Otto Maresch.
Sie rempelten uns an und schrien uns nach: Jiddelach, Jiddelach, hepp, hepp, hepp, wirst verbrannt mit Speisefett, Speisefett ist teier, wirst verbrannt mit Feier!
- Unter diesem Druck zerfiel unsere Gruppe von Neun-bis Zehnjährigen in Zionisten und Sozialisten. Aber diese Zugehörigkeitsgefühle waren ziemlich abstrakt. Etwas so wie beim Fußball. Auch da gab es zwei Gruppen, die einen waren Fans von Admira, die anderen von Rapid. Ich war Rapid-Anhänger. Dabei interessierte ich mich überhaupt nicht für Fußball, war noch nie im Leben auf einem Fußballplatz gewesen, aber man musste einfach entweder Rapid- oder Admira-Fan sein, sonst war man niemand.
Und so war es auch mit den Zionisten und den Sozialisten. Die einen waren bewusste Juden, die sagten, unser eigentliches Ziel ist ein Judenstaat, aber ich glaube, sie haben nicht im Mindesten daran gedacht, dort hinzufahren, bevor die Nazis kamen. Und ich war eben Sozialist, weil mein Vater Sozialist war und mich zum Internationalisten erzogen hat.
Wir waren gegen Armut und Ungleichheit, wobei mir das damals noch völlig wolkige Begriffe waren. Zwar hatte ich die Schlangen von Arbeitslosen gesehen und verstanden, dass Armut existiert. Unrecht und Ungleichheit waren mir bewusst, aber so tief wie ein Rilke-Gedicht bewegte mich das nicht.
© Mandelbaum Verlag 2005.
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