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PERSÖNLICHE ERINNERUNG:
  • AutorIn: Hannah Lessing
  • Geburtsjahr: 1963
  • Wohnort: Wien
  • Land: Österreich
  • Erstpublikation:
    Jüdisches Museum Hohenems, Februar 2004
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Hannah Lessing

Davidstern und Weihnukkah / 1970 - 1979

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Fast meine ganze Kindheit hindurch, wusste ich nicht, dass ich jüdischer Herkunft bin. Meine Eltern bezeichnen sich als Atheisten oder Agnostiker. Wir Kinder gingen nicht in den Religionsunterricht, obwohl es in der französischen Schule in Wien für alle Konfessionen Stunden gab. Da ich die einzige in meinem Jahrgang war, die nirgends teilnahm, drückte mir die katholische Religionslehrerin irgendwann ein Kreuz in die Hand und meinte: "Alle machen jetzt Erstkommunion, mach doch mit, dann musst Du nicht mehr so alleine in der Freistunde herumsitzen." Als ich dieses Kreuz am Abend meiner Mutter zeigte, war ihr Erstaunen groß. Sie sagte: "Kind, wenn wir irgend etwas sind - dann sind wir Juden."

Ab dem 10ten Lebensjahr ging ich also in den jüdischen Religionsunterricht. Ich lernte das Aleph Beth und das Shema Israel. Später wurde ich Gemeindemitglied und wusste, dass es genau das war, was mir gefehlt hatte.

In unserer Familie feierten wir die jüdischen Feste nicht und so wurde ich zum "religiösen Findelkind". Zu den Feiertagen war ich meist, so wie heute noch, bei FreundInnen eingeladen. Wir gingen zu Yom Kippur zusammen vom 17ten Bezirk bis in den Stadttempel, vorbei an den herrlich duftenden Bäckereien. Wir waren sehr stolz darauf zu fasten und so weit zu Fuß zugehen (obwohl es von den religiösen Vorschriften her gar nicht erlaubt ist, so weit zu gehen). Zu Weihnachten hatten wir zu Hause eine geschmückte Tanne mit einem Davidstern an der Spitze und feierten Weihnukkah.

Über den Krieg wurde in der Familie nie gesprochen, und so wusste ich nur, dass mein Vater im Dezember 1939 von Triest aus nach Palästina flüchten konnte - aber ich wusste lange nicht, warum ich keine väterlichen Großeltern hatte. Mein Großvater väterlicherseits war bereits 1933 gestorben, meine Großmutter wurde 1942 von Wien nach Theresienstadt, von dort nach Auschwitz deportiert und 1944 ermordet. Nachdem ich ihre Geschichte erfahren hatte, fehlte mir diese Großmutter plötzlich sehr. Wäre sie die Großmutter gewesen, die mir unsere verloren gegangene "Jüdischkeit" beigebracht hätte? Hätte sie mir Beten beigebracht und wie man am Shabbat Kerzen zündet, einen Seder vorbereitet - gefillte Fisch macht?

Höchstwahrscheinlich nicht, denn die Familie meines Vaters war gutbürgerlich und nicht religiös.

Die Wiener jüdische Gemeinde ist heute sehr klein und trotzdem haben wir ein reges Gemeindeleben. Es gab Shomer Hatzair, Bnei Akiba, sogar eine Gruppe vom Betar und jene, denen diese Gruppierungen alle nicht zusagten (dazu gehörte auch ich) gründeten die sogenannten "Mittelschüler", die Jewish Youth Study Group. Wir haben gemeinsam die Songcontest Siege Israels gefeiert, und haben überhaupt viel über Israel diskutiert. Unsere Clubräume befanden sich im Obergeschoss der Synagoge, und oft wurden wir beim Fernsehen und Rauchen am Shabbat oder anderen Feiertagen erwischt und gerügt.

Die meisten von uns hatten auch einen nicht-jüdischen Freundeskreis; aber es hat gut getan als jüdische Jugendliche unter uns zu sein. Es gab doch so einiges in dem Land, das seine Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialistischen Regimes unter dem Deckmantel des "ersten Opfers" versteckt hat, was dazu führte, dass der Umgang zwischen Juden und Nicht-Juden nicht immer einfach war. Ich trug meinen Davidstern unter dem Pullover und wenn er doch rausrutschte, waren oft die peinlich berührten Gesichter meiner nicht jüdischen FreundInnen zu erkennen.

Im Geschichtsunterricht endete unser Stoff im Jahr 1938 mit ein paar Statistiken (6 Millionen umgebrachte Juden, Bilder von Leichenbergen und irgendwo die Rolle Österreichs, aber was für eine Rolle? - das wurde uns nie beigebracht - was wollen denn die Juden dann noch von uns heute?). Es blieb ein Unbehagen.

Die meisten Jugendlichen, die ich außerhalb der französischen Schule traf, waren sich unsicher, wie man sich gegenüber "Juden" zu verhalten hat. Musste man sich schuldig fühlen? Sich für die Vergangenheit entschuldigen?

Das Worte "Jude oder Jüdin" war eines, das sie sich nicht trauten zu benutzen, wie als ob es ein Schimpfwort sei. Das war in den Jahren 1978 bis 1981.

Bis heute ist es nicht einfach, in diesem Land als Jüdin zu leben, denn allzu oft wird einem das Gefühl gegeben, nicht dazu zu gehören, nur eine MitbürgerIn - eben eine Jüdin zu sein, dessen Heimat ja eigentlich wo anders sei.

Und trotz allem fühle ich mich als Wienerin und dieses Land ist meine Heimat.

Hannah Lessing, geboren 1963 in Wien, seit 1995 Generalsekretärin des "Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus".

Eine von 43 Geschichten aus dem Buch "So einfach war das."
© Jüdisches Museum Hohenems.

Hannah Lessing für WGMSG, 16.3.2006

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