Als Sohn der einzigen nicht-katholischen Unternehmer-Familie in einem niederösterreichischen Dorf aufzuwachsen, war nicht einfach. Wir wohnten in einem stattlichen Haus, das vom berühmten Architekten Josef Frank gebaut worden war; in der Nazizeit soll es als Musikschule gedient haben. Es lag auf einer Anhöhe (am Fuß des Kitzbergs), von der aus man damals noch ungestört auf die übrigen bewohnten Gebiete herunterblicken konnte.
Es ergab sich bald ein schwieriges Dilemma: war die Zugehörigkeit zu meiner (jüdischen) Familie mit der zu den gleichaltrigen Kindern vereinbar? Wie konnten Differenz und Gleichheit unter einen Hut gebracht werden? Dafür gab es natürlich keine bewusste Antwort, aber doch eine unbewusste. Ich "wählte" den Weg einer Überanpassung an die Gleichaltrigen.
Ich übernahm ihren Dialekt, ihre Begeisterung für Fussball, ihren Anti-Intellektualismus. Ich versuchte alle Andersartigkeit, die aus Name, Herkunft und Familie resultieren könnte, auszulöschen. Vater und Mutter hatten sich in der englischen Emigration kennen gelernt, wo ich 1945 geboren wurde. Schon 1946 kehrte die Familie, gegen den Wunsch meiner Mutter, ins verwüstete Österreich zurück. Die Fabrik, meine Eltern, meine "Religion" waren ein Hindernis auf dem Weg der Anpassung. Besonders Mami wollte oder konnte sich weder sprachlich noch sonst wie anpassen - und ich sah sie daher als Hindernis für meine "Strategie" an.
Wahrscheinlich in Antizipation von unvermeidlichen Schwierigkeiten und wegen eigener Unsicherheiten leisteten meine Eltern meinem Anpassungsprozess aber auch bis zu einem bestimmten Grad Vorschub. Sie waren entweder nicht willens oder nicht in der Lage, ihren Kindern (1947 kam ein Mädchen dazu) eine brauchbare Identität zu vermitteln. Im Zeugnis stand "mosaisch" als "Religionsbekenntnis", wir aber feierten Weihnachten und kein jüdisches Fest; ich hieß Johnny, war in London geboren, trug aber - wie mein Vater - oft Lederhosen; Mutter und Schwester kleideten sich häufig mit einem Dirndl.
Wir waren keine Christen, aber was waren wir dann? Eine allzu große Differenz erschien als bedrohlich. Das alles sollte wohl den Kindern erspart bleiben - eine "unbewältigte" Vergangenheit ragte in die Gegenwart.
Eine Begebenheit, die sich Jahrzehnte später zutrug, mag das Dilemma a posteriori illustrieren. Mein bester Freund in der Volksschulzeit war Peter, der Sohn eines kommunistischen Arbeiters. Sein Vater hatte aus "Klassengründen" Vorbehalte gegenüber dem Umgang seines Sohnes mit mir. Ich erinnere mich nicht an reziproke Vorbehalte meiner Eltern. Jedenfalls tat all dies unserer Freundschaft keinen Abbruch. Wir genossen jeden gemeinsamen Lausbubenstreich, zu dem sich die schöne Landschaft des Piestingtals besonders eignete.
Als ich Peter vor wenigen Jahren in der Konditorei des Dorfes antraf, hatten wir natürlich Schwierigkeiten, einander wieder zu erkennen. Außerdem war er in schlechter Verfassung, leicht angetrunken und daher besonders redselig. Zu meiner Überraschung versuchte er krampfhaft, Englisch zu sprechen, und ließ sich auch dann nicht davon abhalten, als ich zu unserem traditionellen Dialekt überging. Trotz all meiner Bemühungen war ich in der Erinnerung und im (Unter)Bewusstsein meines besten Freundes offensichtlich doch ein grundsätzlich Anderer und Fremder geblieben.
John Bunzl, geboren 1945 in London, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Österreichischen Instituts für Internationale Politik und Dozent am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Publikationen zu den Themenbereichen Antisemitismus, Jüdische Geschichte und Nahost.
Eine von 43 Geschichten aus dem Buch "So einfach war das."
© Jüdisches Museum Hohenems.
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