27.12.1933
Liebes Kleines Blatt! Ich bin lungenleidend, mußte schon für Kost und Quartier arbeiten, weil mich niemand mehr aufnehmen wollte. Dann Spital. Dann Füße wundlaufen, damit ich zum Freiwilligen Arbeitsdienst komme. Ich mußte von 40 Groschen im Tag Bettgeld, Abendessen, Wäsche usw. bezahlen. Und noch war ich froh, daß ich wenigstens dies hatte.
Um 1/2 6 Uhr saß ich schon bei der Heimarbeit, bis in die Nacht hinein das gleiche. Nach vier Tagen erhielt ich Bescheid, daß ich, eine Vierzigerin, die bisher noch keine Unterstützung bezogen hatte, kein Anrecht auf den Freiwilligen Arbeitsdienst hätte. Die Heimarbeit blieb. Ich erhielt 3.60 Schilling in der Woche. Mein Bettgeld allein macht 5 Schilling aus. Ich esse zwar nur trockenes Brot, aber auch das kostet Geld. Dabei werde ich überall abgewiesen.
Einmal saß ich verzweifelt im Stadtpark. Eine Frau riet mir, zu betteln. Als ich mich weigerte, gab sie mir Schnaps, dann nahm sie mich mit. Ich bring's immer erst mittags zustande, wenn mir vor Hunger schon schwarz vor den Augen wird. Ist solches Leben überhaupt noch zu ertragen? Am 12. d. kam ich aus der Heilstätte, bin obdachlos. Will keiner einer rettungslos Verzweifelten helfen? Keiner?
Anny Tr., früher in der Baumgartnerhöhe.
WIR GRATULIEREN! MENSCHEN SCHREIBEN GESCHICHTE.
Ein DER LICHTBLICK Projekt.