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HISTORISCHER ZEITUNGSARTIKEL:
Wiener Morgenzeitung

2.3.1926

Historisches Logo der Zeitung »Wiener Morgenzeitung«

Liebe, Glaube und Aberglaube - per Radio

Das Radio ist unstreitig eine hervorragende Erfindung unserer Zeit. Wenn man bedenkt, daß innerhalb weniger Sekunden der menschliche Gedanke auf der Radiowelle die ganze Erde durchlaufen kann, wo doch die weittragenden Geschütze höchstens für 120 Kilometer langten. Das Radio ist also geeignet, neben den schon jetzt allgemein bekannten Diensten bestimmt noch bedeutendere zu leisten.

Marconi glaubt, daß das Radio in Verbindung mit dem Fernseher künftighin Kriege unmöglich machen wird. Es wäre nur zu bedenken, ob die Menschen nicht dem Fernsehen neue Entdeckungen in der Fernverdunkelung entgegenstellen werden. Letzten Endes hängt es doch von uns ab, wohin wir mit unseren Neuerungen steuern wollen, ob wir sie dem vorwärtsstrebenden menschlichen Geiste dienstbar machen wollen oder nicht. Ein Nebeneinanderreihen unlängst aufgetauchter Meldungen möge uns einen kleinen Beitrag zur Betrachtung auf dem Gebiete des Radio geben!

In Prag schrien während der Uebertragung eines Konzertes zwei junge Burschen aus Leibeskräften ins Mikrophon hinein: "Die Slavia hat verloren!" Auf diese Art übersandten sie einer von ihnen geliebten Frau einen Gruß, welchen die Dame auf dem Lande per Radio empfangen hat. Die Burschen nahm die Polizei in Empfang, vielleicht um von ihnen die geprellte Gebühr für die Sendegesellschaft einzukassieren ...

Wegen welches Deliktes sollen denn die zwei Burschen verurteilt werden? Was macht man nicht alles aus Liebe? Man schreit - auch ins Radiomikrophon hinein ...!

Die britische Rundfunkgesellschaft hat die Erlaubnis erhalten, den Gottesdienst in der Kathedrale von Norwich zu Ostern durch Rundfunk zu verbreiten. Die Gebete werden also ohne Verspätung ins Haus geliefert werden. Die Lamaisten im Osten, deren Gebetmühlen in einer Viertelstunde 10.000 Gebete leisten können, haben es noch bequemer als die zu ihrem Gott per Radio Betenden.

Aber wie schaut es hier mit der Andacht aus, die doch das wesentlichste Moment des Gottesdienstes ist? In Spanien hat vor kurzer Zeit das Radio der Bevölkerung der Halbinsel eine - wie das genannt wird - "Handlung des Glaubens" angekündigt. Es teilte mit, daß in dem Städtchen Pollensa ein Autodafe stattfinden wird. Diese Inquisitionsfeierlichkeit, eingeleitet durch eine düstere Prozession, fand statt auf einem Platze, auf dem ein Scheiterhaufen errichtet wurde.

Mengen von "ketzerischen" Büchern aus der Feder berühmter Spanier, wie Ibanez, Unamuno (beide sind Gegner der Diktatur!) wurden auf den Scheiterhaufen geworfen und von den Flammen verschlungen. Unamuno, der greise Gelehrte, lebt im Exil, wohin ihn der Diktator vertrieb. Einst schrieb er, Europa habe Spanien nichts zu sagen, umgekehrt, Europa zu spanisieren täte not! Ich glaube aus seiner jetzigen Perspektive muß seine Meinung anders ausfallen ...!

Der durch das Radio angekündigte Scheiterhaufen beleuchtet grell die Paradoxa der Zeit. Ein Werk, geschaffen durch den menschlichen Geist, wird dazu benützt, um den Geist zu verdunkeln. Der Fortschritt wird zum Schleichschritt, weil der Mensch in seiner Beschränkung nicht zugleich auf allen Gebieten fortschreiten kann oder will. Er ist auf dem Gebiete der Technik der fortgeschrittenste Mensch und bleibt zugleich tief im mittelalterlichen Aberglauben stecken. Das Autodafe im Mittelalter war noch ins Milieu hineinpassend, heute ist es stilwidrig ...!

Der Liebesschrei im Mikrophon mag uns erheitern, die Gebetsübertragung per Radio mag ein Kopfschütteln auslösen, der durch das Radio verkündete Scheiterhaufen aber kann uns im Jahre 1926 nur traurig machen.

Tulo Russenblatt.

Historischer Zeitungsartikel: Wiener Morgenzeitung, 2.3.1926

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