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HISTORISCHER ZEITUNGSARTIKEL:
Neues Wiener Journal

12.4.1936

Historisches Logo der Zeitung »Neues Wiener Journal«

Was ist Sexappeal?

Erotik in der Kleidung. - Kleiner Moralkodex.
Von G. B. Shaw.

Ich würde empfehlen, daß sich die Leute, die Ansichten über Sexualreformen vertreten, mögen diese wie immer sein, vorerst von Sachverständigen über die möglichen praktischen Wirkungen der von ihnen verfochtenen Maßregeln beraten ließen. Statt die tatsächlichen Möglichkeiten unbeachtet zu lasse, sollte man es versuchen, die Bedeutung des besonderen Fragenkomplexes der Sexualität klarzulegen, dann aber die Wirkungen abzuwägen, die durch die Ausführung vorgeschlagener Maßregeln hervorgerufen würden.

Beschäftigen wir uns also zunächst mit den psychologischen Wirkungen. Auf diesem Gebiete betrachte ich mich als sachverständig, denn ich bin zufällig wirklicher Experte auf dem Gebiete des "Sexappeals". Bin ich doch mit dem Theater verbunden und das Theater beschäftigt sich unaufhörlich mit dem Sexappeal; es muß sich damit befassen, wie es ein Gemüsehändler mit den Rüben tut. Wie die Meinung eines Grünzeughändlers über Rüben von Wert ist, muß auch den Ansichten jener, die mit dem Theater in Verbindung stehen, in der Frage der sexuellen Anziehung Wert beigemessen werden.

Dramatiker, und überhaupt alle, die mit dem Theater zusammenhängen, wissen genau, worin der Sexappeal besteht. Es ist sogar eine der wichtigsten Funktionen des heutigen Theaters, die Leute in sexuellen Fragen zu erziehen. Wenn unsere Diagnose der sexuellen Wirkung falsch ist, haben wir schwere finanzielle Verluste. Da wir daher unser ganzes Leben - oder einen Teil unseres Lebens, der dem Theater gewidmet war - über diesen Gegenstand Studien gemacht haben, wissen wir alles, was man über sexuelle Erziehung wissen muß. Wir sind auf diesem Gebiete offenbar Experten. Wir bringen aber unser Wissen nicht zur allgemeinen Kenntnis.

Wozu Kleider?

Will man die Frage des sexuellen Reizes analysieren, wird man auf zwei Typen von Individuen stoßen, mit denen man zu rechnen hat. Zuerst mit denen, die glauben, daß sie den sexuellen Anreiz auf ein Minimum reduzieren, wenn sie ein Maximum an Kleidern tragen, zweitens mit denen, die glauben, daß sie diesen Anreiz auf ein Maximum hinauftreiben, wenn sie ein Minimum an Kleidern tragen. Als Sachverständiger kann ich sagen, daß beide ganz falsche Methoden anwenden. Weder das Maximum noch das Minimum wird das Ziel erreichen. Dessen ungeachtet liegt das Geheimnis des Sexappeals doch in den Kleidern.

Ueberdies steht der Ursprung der Kleider im Zusammenhang damit. Denn man legte die Kleider an, nicht sosehr, um sich gegen die Unbilden der Witterung zu schützen, als vielmehr um den sexuellen Reiz des Trägers zu erhöhen. Das Geheimnis des sexuellen Anreizes liegt also in den Kleidern. Nicht im Minimum oder im Maximum, sondern einfach im Tragen von Kleidern, in ihrer Anordnung, in der Art, die gewissen Konturen des Körpers hervorsteht. So weit muß es vielleicht gar nicht gehen. Schon ein Stück der Kleidung, das man in bestimmter Weise trägt, kann einen sexuellen Reiz bilden.

Ich möchte das Gesagte durch Beispiele illustrieren. Vor vielen Jahren war ich in einer deutschen Stadt, wo die Leute unter anderem Moorbäder nahmen, weil sie glaubten, daß diese der Gesundheit besonders bekömmlich seien. Nebstbei bemerkt, ich habe keine Moorbäder genommen, aber eines Abends nahm ich an einer Art von Gartenfest teil, wo sich unter den Vortragenden eine Frau befand, die sowohl als Sängerin wie auch als Akrobatin ihre Kunst zeigte. An sich ein seltenes Phänomen, denn die meisten Akrobaten haben kreischende Stimmen.

Im ersten Teil der Vorstellung, in dem die Dame als Akrobatin auftrat, trug sie nur ein dünnes Gewand, das die ganze Figur deutlich abzeichnete. Außer dieser enganliegenden Hülle war sie, wie die Natur sie geschaffen hatte. Es schien aber, daß es niemand ungehörig oder gar im geringsten schamlos fand. Nachdem sie ihre akrobatischen Vorführungen beendet hatte, ging sie ab und es wurde angekündet, daß sie bald erscheinen und ein etwas gewagtes Liedchen singen werde.

Man hätte nun gedacht, daß für ein solches Lied das ideale Kleid das Trikot wäre, das sie bei ihrem früheren Auftreten trug. Sie aber fand diese Kleidung für ihren Gesangvortrag nicht passend, verdeckte also einen Teil des Trikots mit einem Rock und erschien nun, viel mehr bekleidet als vorher, sah aber, um die Wahrheit zu sagen, äußerst schamlos aus. Sie war sich dessen bewußt und das Publikum auch. Das Röckchen hatte ihr den erhöhten sexuellen Reiz verliehen.

Vom kurzen Rock zur Nacktheit.

Auch die viktorianische Frau, die Frau der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, war eine Meisterin des Sexappeals, einfach durch die Art, wie sie sich kleidete. Alles an ihr, mit Ausnahme von Wangen und Nase, war ein verbotenes Geheimnis für den Mann. Sie Art der Bekleidung hatte ihren sexuellen Anreiz gesteigert: Die Folge war, daß das viktorianische Zeitalter eine äußerst unmoralische Zeitperiode wurde, viel ummoralischer als die jetzige, in der die Frauen ein Minimum von Kleidern tragen.

Diese Aenderung wurde durch den Wunsch einiger Frauen nach Ausbeutung des sexuellen Reizes der Kleidung herbeigeführt. Besonders zur Zeit des kurzen Rockes. Sie zeigten erst ein Stückchen vom Fußgelenk, dann ein Stückchen vom Bein; als die Mode in dieser Richtung noch weiter fortzuschreiten versuchte, ist der sexuelle Anreiz gesunken. Ein extremes Beispiel für diese Tatsache bieten die Nacktheitsapostel, die Nudisten. Allerdings könnte der sexuelle Reiz noch stärker sein, wenn die Frau nur einen einzigen Zeugen ihrer Nacktheit hätte, nicht aber, wenn sie sich in einer Kolonie von stark Unbekleideten bewegt.

Das ist der Grund, weshalb die Nacktheitsapostel in der Regel nicht beliebt sind. Die Menschen klammern sich so lange wie möglich an die Idee des sexuellen Reizes und wenn alle nackt umhergehen, wird er verschwinden. Schon in diesem Jahrhundert ist der Sexappeal in einem Maße gesunken, wie es der Mensch des 19. Jahrhunderts kaum für möglich gehalten hätte. Die konservative Moral wünscht die alte Art der Frauenkleidung wieder einzuführen, ohne zu wissen, daß bei Erfüllung ihrer Wünsche die Unmoral des viktorianischen Zeitalters sofort wiederkehren würde.

Historischer Zeitungsartikel: Neues Wiener Journal, 12.4.1936

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