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HISTORISCHER ZEITUNGSARTIKEL:
Wiener Morgenzeitung

4.2.1921

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Tanzraserei.

Das Tanzen war einmal ein Vergnügen der jüngsten, jungen und älteren Jugend, gegen das höchstens vom Standpunkt der Hygiene, selten aber vom Standpunkt der Moral etwas einzuwenden war. Man wiegte sich wohlig in den behaglichen Rhythmen des Walzers, man brachte die Figuren der feierlichen Quadrille in Unordnung und hopfte seinen Tango, so gut oder schlecht es eben ging.

Damals war Tanzen, wie gesagt, ein Vergnügen - jetzt ist es der Ausfluß einer geheimnisvollen Krankheit, einer Tollwut, die plötzlich die junge Welt ergriffen hat, ähnlich jener Tanzkrankheit, die einst im Deutschland des 17. Jahrhunderts wütete. Und wie jede Modeseuche, ergreift auch diese Tanzraserei die empfängliche und phantasievolle Jugend des Judentums mit stärkerer Intensität.

Das Tanzen ist keine Unterhaltung, keine Zerstreuung, kein Vergnügen für sie, es scheint der Mittelpunkt ihres Daseins, der Sinn ihrer Existenz zu sein. Da hört man, namentlich von jungen Mädchen, Aussprüche wie: "Ich halte das Tanzen für meine Lebensaufgabe", und man kann an dem Verhalten der jungen Damen erkennen, wie ernst diese Worte gemeint sind. Da werden neue Tänze in mühevollem Studium voll feierlicher Sammlung erlernt, da "trainiert" man sich für einen Ball wie einstmals für eine sportliche Leistung und alle mit dem Tanzvergnügen zusammenhängenden Fragen avancieren zu Lebensfragen.

Das ist nicht harmlose Jugendeselei, die die Vergnügungen des Tages zu ungeheurer Wichtigkeit aufbauscht - die Sache ist alles eher denn harmlos. Man muß nur hören, mit welcher rücksichtslosen Energie Töchter und Söhne bescheidener Familien den Eltern die großen materiellen Opfer auferlegen, die mit den jetzigen Tanzveranstaltungen verbunden sind. Gegen diese Maßlosigkeit helfen die historischen Reminiszenzen auch nicht viel.

Es ist ja zweifellos, daß in Krisenzeiten der Weltgeschichte die Tanzlust hoch aufschäumt und wer es nicht glaubt, mag in Goncourts "Geschichte der französischen Revolution" nachlesen, wie toll Paris sich dazumal gebärdete. Mit diesen Rückblicken und Vergleichen ist aber, wie gesagt, nicht viel getan. Denn sicher ist vor allem, daß es auch damals an warnenden und mahnenden Stimmen nicht gefehlt hat, dann aber auch, daß die Tanzkrankheit bei weitem nicht so stark in das Leben der bürgerlichen Familie eingegriffen hat wie heute.

Die maßlose Ueberschätzung, die alle mit dem Tanzen zusammenhängende Fragen auch bei der jüdischen Jugend erfahren, trägt ausgesprochen hysterischen Charakter und darum ist auch ihre Uebertragbarkeit zu fürchten. Die unteren Stände nehmen ja in allem, was Mode heißt, nur allzu leicht von den oberen an und so ist der Umfang der Epidemie noch lange nicht zu begrenzen. Man tanzt auf Bällen, in Bars, in Tanzschulen, bei Akademien, man tanzt nach Vorträgen, Konzerten, man tanzt nach Beethoven oder nach Brahms.

Für das herzzerreißende Elend, das die Ballsäle umgibt, hat die Jugend keinen Blick und keinen Gedanken - Wien tanzt.

Historischer Zeitungsartikel: Wiener Morgenzeitung, 4.2.1921

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