18.1.2005
24.12.1924
Wir leben in einer Zeit sittlichen Tiefstandes. In einer Zeit, in der die Mißachtung des Nächsten, die Selbstsucht und Rücksichtslosigkeit Trumpf ist. Die "Herrenmoral", die Gesetz, Sitte und Menschenwürde verhöhnt, macht sich in ihrer nackten Brutalität breit. Eines der aufdringlichsten Symptome dieser Entartung ist die Verwilderung des Straßenlebens. Die Drangsale, die die Bevölkerung unserer Stadt durch die Uebergriffe des Automobilismus zu erdulden hat, überschreiten bereits weit das Maß des Erträglichen. Es sei hier nicht von der ununterbrochenen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch das übermäßige Schnellfahren gesprochen, nicht von den Blutopfern, die der Bevölkerung vom Automobilismus auferlegt werden.
Von allen Plagen, denen wir durch den Automobilismus ausgesetzt sind, sei hier nur einer - allerdings der drückendsten - gedacht: der unaufhörlichen Peinigung der Bevölkerung durch den Gebrauch übermäßig lauter Signale. Der Automobilismus hat seit jeher das Bestreben gezeigt, seine Sonderinteressen rücksichtslos auf Kosten des Wohles der Gesamtbevölkerung durchzusetzen. Die Schranken, die ihm durch das Gesetz gezogen sind, sind von ihm längst durchbrochen worden. Das Gesetz gestattet innerhalb des Stadtgebietes nur eine Höchstgeschwindigkeit von 15 Kilometern in der Stunde. In Wirklichkeit sausen die Automobile mit der doppelten, ja vielfach mit noch größerer Geschwindigkeit durch die Straßen der Stadt.
Mit der gleichen Selbstverständlichkeit hat er sich auch über die gesetzliche Bestimmung, daß nur tieftönende Hupen gebraucht werden dürfen, hinweggesetzt. Die Verwendung tieftönender Hupen kommt immer mehr außer Uebung. Dafür sind heute die meisten Automobile mit den sogenannten "Boschsignalen" und ähnlichen vom Motor aus betätigten Marterinstrumenten bewaffnet, die allein schon wegen des plötzlich hervorgestoßenen metallischen Klanges die Nerven schwer irritieren. Den meisten Automobilisten kommt es eben nicht so sehr darauf an, die Fußgänger durch die Signale zu warnen, sie haben es vielmehr darauf abgesehen, die Passanten wie mit Peitschenhieben aus der Bahn zu jagen, um sich die Möglichkeit ungehinderten Schnellfahrens zu erzwingen.
In allen Tonarten fahren diese Signale auf ihre Opfer los: scharf, schrill, schneidend, oft abgerissen, pfiffartig, dann wieder übermäßig lang gezogen, dazu meist mit mark- und beinerschütternder Lautstärke. Man hört häufig Signale, denen die Absicht zugrunde zu liegen scheint, die unliebsamen Fußgänger dafür zu quälen, daß sie sich noch immer gestatten, die Straßen mitzubenützen. Das Publikum ist diesen Roheiten schutzlos ausgeliefert. Die Fabriken überbieten sich in der Herstellung raffinierter Instrumente, mit denen das Publikum von den Automobilisten nach Willkür mißhandelt wird. Niemand wehrt ihnen.
Nicht nur auf den Straßen ist die Bevölkerung diesen wüsten Ausschreitungen preisgegeben. Auch die Mauern der Wohnungen bieten keinen Schutz. Bis in die letzten Winkel der Häuser dringt diese Lärmorgie, verschont nicht die Arbeitsstätten der Menschen, nicht Spitäler, nicht Kirchen, nicht Schulen. Es gibt kaum mehr einen Ort, wo sich der Großstädter der ungestörten Arbeit, der Ruhe und Sammlung hingeben könnte, selbst das Recht auf ungestörte Nachtruhe ist ihm geraubt.
Die gesundheitlichen Schädigungen, die durch diesen Raubbau an der Nervenkraft verursacht werden, die Verluste an Arbeitskraft und Lebensfreude und der moralische Schaden, der durch diese Zurschaustellung roher Instinkte erwächst, ist nicht abzuschätzen. Muß nicht die allgemeine Rücksichtslosigkeit und damit die gegenseitige Menschenfeindlichkeit aufs gefährlichste gefördert werden, wenn sozusagen die ganze Atmosphäre damit geschwängert ist?
Wann wird es den Behörden zum Bewußtsein kommen, daß die Rechte der Gesamtbevölkerung durch eine Minderheit vergewaltigt werden, und daß es ihre Pflicht ist, den geschilderten Uebelständen abzuhelfen? Sehen sich die Sanitätsbehörden, insbesondere das Volksgesundheitsamt nicht bemüßigt, gegen diese Bedrohung der Volksgesundheit aufzutreten? Notwendig ist die behördliche Einführung einer gleichartigen, tieftönenden Hupe für sämtliche Kraftfahrzeuge, bei deren Festsetzung selbstverständlich der Hauptinteressent, das ist die Bevölkerung durch Vertreter mitzuwirken hat.
Es ist klar, daß sich die Ausführungen nicht gegen den Automobilismus als solchen richten. Es handelt sich nur darum, das Publikum gegen dessen Uebergriffe in Schutz zu nehmen. Auch bei geordneten Verkehrsverhältnissen wird der Automobilismus noch immer eine sehr fühlbare Belastung der Lebenshaltung der Bevölkerung sein, um so mehr ist es eine unabweisliche Notwendigkeit, jede ungerechtfertigte und vermeidbare Bedrückung der Allgemeinheit abzustellen. Die Sache wird nicht mehr zur Ruhe kommen, bis nicht die Behörden durch die Tat bewiesen haben werden, daß das Interesse der Gesamtbevölkerung, des Gemeinwohles und der Kultur höher stehen als die Ansprüche einer rücksichtslosen Minderheit.
Dr. Franz Frank, Sektionsrat.
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